Abendrot im Walde
In den Wald bin ich geflüchtet,
Ein zu Tod gehetztes Wild,
Da die letzte Glut der Sonne
Längs den glatten Stämmen quillt.
Keuchend lieg ich. Mir zu Seiten
Blutet, siehe, Moos und Stein –
Strömt das Blut aus meinen Wunden?
Oder ists der Abendschein?
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Abendrot im Walde“ von Conrad Ferdinand Meyer ist eine Momentaufnahme, die die innere Zerrissenheit und Todesangst des lyrischen Ichs in einer Naturkulisse von dramatischer Intensität widerspiegelt. Die Flucht in den Wald, die als Ausgangspunkt dient, deutet auf eine Verfolgung und die Suche nach Zuflucht hin, die jedoch im Angesicht des Todes scheitert.
Die Verwendung des metaphorischen Bildes eines „zu Tod gehetzten Wildes“ deutet auf eine existenzielle Bedrohung hin, die das lyrische Ich erlebt. Der Wald, eigentlich ein Ort der Ruhe und Geborgenheit, wird hier zum Schauplatz einer blutigen Auseinandersetzung. Die Beobachtung der „letzte[n] Glut der Sonne“, die „längs den glatten Stämmen quillt“, verbindet die äußere Natur mit dem inneren Zustand des Ichs. Die „Glut der Sonne“ vermischt sich mit dem Blut, das aus den Wunden zu fließen scheint, was die Verschmelzung von Natur und persönlichem Leid unterstreicht.
Die entscheidende Frage des Gedichts, ob das Blut aus den Wunden des Ichs fließt oder vom „Abendschein“ verursacht wird, offenbart die Verunsicherung und das Entsetzen des lyrischen Sprechers. Diese Frage ist von zentraler Bedeutung, da sie die Grenze zwischen Realität und Wahrnehmung, zwischen physischem Schmerz und der Schönheit der Natur verschwimmen lässt. Die Unsicherheit verdeutlicht die psychische Verfassung des Ichs, das am Rande des Todes steht.
Das Gedicht zeichnet sich durch seine eindringliche Bildsprache und seine Fähigkeit aus, eine beklemmende Atmosphäre zu erzeugen. Meyer gelingt es, die existenzielle Angst und die Verzweiflung des lyrischen Ichs auf minimalistische Weise zu vermitteln. Die knappe Form, die einfachen Worte und die klaren Bilder verstärken die Wirkung des Gedichts und machen es zu einem eindringlichen Zeugnis menschlicher Verletzlichkeit und Todeserfahrung. Das Abendrot wird so zum Spiegelbild der eigenen Lebenskraft, die in den Untergang eintritt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.