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Tage

Von

I.

Klangen Frauenschritte hinter Häuserbogen,
Folgtest du durch Gassen hingezogen
Feilen Blicken und geschminkten Wangen nach,
Hörtest in den Lüften Engelschöre musizieren,
Spürtest Glück, dich zu zerstören, zu verlieren,
Branntest dunkel nach Erniedrigung und Schmach.

Bis du dich an Eklem vollgetrunken,
Vor dem ausgebrannten Körper hingesunken,
Dein Gesicht dem eingeschrumpften Schoß verwühlt –
Fühltest, wie aus Schmach dir Glück geschähe,
Und des Gottes tausendfache Nähe
Dich in Himmelsreinheit höbe, niegefühlt.

II.

O Gelöbnis der Sünde! All’ ihr auferlegten Pilgerfahrten in entehrte Betten!
Stationen der Erniedrigung und der Begierde an verdammten Stätten!
Obdach beschmutzter Kammern, Herd in der Stube, wo die Speisereste verderben,
Und die qualmende Öllampe, und über der wackligen Kommode der Spiegel
in Scherben!
Ihr zertretnen Leiber! du Lächeln, krampfhaft in gemalte Lippen eingeschnitten!
Armes, ungepflegtes Haar! ihr Worte, denen Leben längst entglitten –
Seid ihr wieder um mich, hör’ ich euch meinen Namen nennen?
Fühl’ ich aus Scham und Angst wieder den einen Drang nur mich zerbrennen:
Sicherheit der Frommen, Würde der Gerechten anzuspeien,
Trübem, Ungewissem, schon Verlornem mich zu schenken, mich zu weihen,
Selig singend Schmach und Dumpfheit der Geschlagenen zu fühlen,
Mich ins Mark des Lebens wie in Gruben Erde einzuwühlen.

III.

Ich stammle irre Beichte über deinem Schoß:
Madonna, mach’ mich meiner Qualen los.
Du, deren Weh die Liebe nie verließ,
In deren Leib man sieben Schwerter stieß,
Die lächelnd man zur Marterbank gezerrt –
O sieh, noch bin ich ganz nicht aufgesperrt,
Noch fühl’ ich, wie mir Haß zur Kehle steigt,
Und vielem bin ich fern und ungeneigt.
O laß die Härte, die mich engt, zergehn,
Nur Tor mich sein, durch das die Bilder gehn,
Nur Spiegel, der die tausend Dinge trägt,
Allseiend, wie dein Atemzug sich über Welten regt.

IV.

Dann brenn’ ich nächtelang, mich zu kasteien,
Und spüre Stock und Geißel über meinen Leib geschwenkt.
Ich will mich ganz von meinem Selbst befreien,
Bis ich an alle Welt mich ausgeschenkt.
Ich will den Körper so mit Schmerzen nähren,
Bis Weltenleid mich sternengleich umkreist –
In Blut und Marter aufgepeitschter Schwären
Erfüllt sich Liebe und erlöst sich Geist.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Tage von Ernst Stadler

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Tage“ von Ernst Stadler ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Themen wie Leid, Scham, Erlösung und der Sehnsucht nach Transzendenz. Das Gedicht ist in vier Abschnitte unterteilt, die jeweils unterschiedliche Aspekte der Erfahrung beleuchten.

Der erste Abschnitt beschreibt eine Phase der Selbstzerstörung und Erniedrigung. Der Sprecher folgt zunächst scheinbar sinnlichen Reizen, wie „Frauenschritte“ und „geschminkten Wangen“, bis er sich in einem Zustand der Ekstase befindet, der von Scham und dem Gefühl der Nähe Gottes begleitet wird. Diese Paradoxie, das Finden von Glück in der Erniedrigung, deutet auf eine komplexe psychologische Landschaft hin, in der Schmerz und Sinnlichkeit untrennbar miteinander verbunden sind.

Der zweite Abschnitt verstärkt das Thema der Erniedrigung. Es werden Bilder von „entehrten Betten“, „beschmutzten Kammern“ und „zertretnen Leibern“ beschworen. Diese Metaphern veranschaulichen das tiefe Gefühl der Selbstverachtung, das den Sprecher quält. Trotz dieser Verzweiflung ist in den Fragen, ob die „Worte, denen Leben längst entglitten“ den Sprecher noch seinen Namen nennen, auch eine Sehnsucht nach Verbundenheit und Verständnis zu erkennen. Der Sprecher sucht nach einer Möglichkeit, sich dem „Trüben, Ungewissen“ zu widmen und sich selbst zu „weihen“.

Im dritten Abschnitt wendet sich der Sprecher an die Madonna und fleht um Erlösung. Er bittet um Befreiung von seinen Qualen und eine Verwandlung in einen „Spiegel“, der die Welt widerspiegelt. Die Anrufung der Madonna, deren Leiden mit dem Sprecher in Verbindung gebracht wird, deutet auf den Wunsch nach Mitgefühl und Verständnis hin. Die Bitte um eine „Härte“ die sich „zergehen“ soll, und um die Fähigkeit, die Bilder der Welt aufzunehmen, weist auf eine Sehnsucht nach einem Zustand von Passivität und Allgegenwart hin.

Der vierte Abschnitt offenbart den Weg zur Erlösung durch Askese und Leiden. Der Sprecher beabsichtigt, sich „zu kasteien“ und sich von seinem „Selbst zu befreien“. Durch Schmerz und Marter soll eine Transformation erreicht werden, die dazu führt, dass sich „Liebe“ und „Geist“ erlösen. Das Gedicht endet mit einem Triumph des Geistes über den Körper und der Erwartung eines Zustands, in dem Leid und Liebe eins werden. Stadlers „Tage“ ist somit eine introspektive Reise durch die menschliche Seele, die die Abgründe des Selbst erforscht und nach Erlösung in Leiden und Transzendenz sucht.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.