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Abendschluß

Von

Die Uhren schlagen sieben. Nun gehen überall in der Stadt die Geschäfte aus.

Aus schon umdunkelten Hausfluren, durch enge Winkelhöfe aus protzigen Hallen drängen sichdie Verkäuferinnen heraus.

Noch ein wenig blind und wie betäubt vom langen Eingeschlossensein

Treten sie, leise erregt, in die wollüstige Helle und die sanfte Offenheit des Sommerabendsein.

Griesgrämige Straßenzüge leuchten auf und schlagen mit einem Male helleren Takt,

Alle Trottoirs sind eng mit bunten Blusen und Mädchengelächter vollgepackt.

Wie ein See, durch den das starke Treiben eines jungen Flusses wühlt,

Ist die ganze Stadt von Jugend und Heimkehr überspült.

Zwischen die gleichgiltigen Gesichter der Vorübergehenden ist ein vielfältiges Schicksalgestellt –

Die Erregung jungen Lebens, vom Feuer dieser Abendstunde überhellt,

In deren Süße alles Dunkle sich verklärt und alles Schwere schmilzt, als wäres leicht und frei,

Und als warte nicht schon, durch wenig Stunden getrennt, das triste Einerlei

Der täglichen Frohn – als warte nicht Heimkehr, Gewinkel schmutziger Vorstadthäuser,zwischen nackte Mietskasernen gekeilt,

Karges Mahl, Beklommenheit der Familienstube und die enge Nachtkammer, mit den kleinen Geschwisterngeteilt,

Und kurzer Schlaf, den schon die erste Frühe aus dem Goldland der Träume hetzt –

All das ist jetzt ganz weit – von Abend zugedeckt – und doch schon da, und wartend wieein böses Tier, das sich zur Beute niedersetzt,

Und selbst die Glücklichsten, die leicht mit schlankem Schritt

Am Arm des Liebsten tänzeln, tragen in der Einsamkeit der Augen einen fernen Schatten mit.

Und manchmal, wenn von ungefähr der Blick der Mädchen im Gespräch zu Bodenfällt,

Geschieht es, daß ein Schreckgesicht mit höhnischer Grimasse ihrer Fröhlichkeit denWeg verstellt.

Dann schmiegen sie sich enger, und die Hand erzittert, die den Arm des Freundes greift,

Als stände schon das Alter hinter ihnen, das ihr Leben dem Verlöschen in der Dunkelheit entgegenschleift.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Abendschluß von Ernst Stadler

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Abendschluß“ von Ernst Stadler ist eine Momentaufnahme der abendlichen Entspannung und des Ausbruchs aus der Arbeitswelt, aber auch ein melancholischer Blick auf die Vergänglichkeit des Glücks und die unausweichliche Rückkehr zum Alltag. Es beschreibt das pulsierende Leben einer Stadt, wenn die Geschäfte schließen und junge Menschen aus den Hausfluren und Hallen in die Abenddämmerung strömen.

Der Autor erzeugt eine lebendige Atmosphäre, indem er die Sinneswahrnehmungen der jungen Verkäuferinnen einfängt: Sie sind „noch ein wenig blind und wie betäubt“ vom Tag, aber gleichzeitig „leise erregt“ von der „wollüstige[n] Helle“ des Abends. Die Stadt wird zu einem Ort der Jugend und der Heimkehr, überspült von „bunten Blusen und Mädchengelächter“. Diese Beschreibung des ausgelassenen Glücks wird jedoch durch eine untergründige Melancholie kontrastiert. Stadler deutet an, dass die Freude nur flüchtig ist, dass das „triste Einerlei“ des Alltags bereits auf dem Weg ist.

Die zweite Hälfte des Gedichts verlagert den Fokus auf die Schattenseiten des Glücks. Die Idylle wird durch die Erkenntnis getrübt, dass die Freiheit und das Vergnügen des Abends nur vorübergehend sind. Die „Erregung jungen Lebens“ wird durch das Bewusstsein des nahenden Unheils überschattet, das sich in der Ungewissheit der Zukunft manifestiert. Das „triste Einerlei“ des Alltags, die „Gewinkel schmutziger Vorstadthäuser“, die „enge Nachtkammer“ und die „tägliche Frohn“ werden als dunkle Gewissheit dargestellt, die bereits auf die jungen Frauen wartet.

Das Gedicht gipfelt in einer bittersüßen Erkenntnis: Selbst die Glücklichsten tragen in ihren Augen einen „fernen Schatten“ mit sich. Dieser Schatten wird in dem Moment spürbar, in dem der Blick der Mädchen im Gespräch zu Boden fällt und ein „Schreckgesicht mit höhnischer Grimasse“ ihre Fröhlichkeit trübt. Der letzte Vers impliziert, dass das Alter und der Tod bereits im Hintergrund lauern. Stadler gelingt es, die flüchtige Schönheit des Augenblicks einzufangen und gleichzeitig die Vergänglichkeit und die Unausweichlichkeit des Schicksals zu thematisieren. Das Gedicht ist somit eine subtile Reflexion über die Dualität des Lebens, in der Freude und Trauer, Hoffnung und Verzweiflung untrennbar miteinander verbunden sind.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.