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Die Linde

Von

Warst so schön, breitwipflichter Baum,
Als dir schwollen die Knospen,
Als du Blüthendüfte verhauchtest;
Warst so schön!

Dich umsummt′ im Lenzabend der Käfer,
Geflügelte Ameisen schwärmten
Wie Mittagswölkchen, die die Sonne
Versilbert, um deinen Blüthenzweig.

Die Blüthe fiel; da warst du grün
Und stärktest mein Auge,
Das ans falsche Dunkel meines Kerkers
Gewöhnt, blinzt′ im Sonnenstrahl.

Und nun bist du halbnackt;
Der Herbststurm blies um deinen Scheitel,
Und deinen Schmuck; die goldnen Blätter
Wälzt nun wogend der Odem des Sturms.

Die schwarzen Aeste starren traurend,
Ihrer Decke beraubt, in die Luft.
Dich flieht der Sperling, denn du bist
Ihm nicht mehr Hülle gegen den Sperber.

Einst knospete ich, o Linde!
Schöner, als du. Trug Blüthen
Des Knaben, des Jünglings, die süßer
Dufteten, als du im Frühlingsschmuck.

Meine geringelten Seidenlocken
Waren schöner, als dein grünes Haar.
Schöner, als deines Finken und Distelvogels,
Scholl mein Gesang und Flügelspiel.

Ich war ein Mann, breitwipflicht
Und lieblich im Sonnenstrahl spielend.
Meines Geistes Fittig deckte die Meinen, –
Wie dein schattender Wipfel den Pilger.

Aber ach! mein Herbst ist gekommen;
So früh ist schon mein Herbst gekommen!
Das Schicksal blies mit kaltem stürmendem Odem;
Und meine Blätter fielen.

Heiser ist mein Gesang;
Die geflügelte Rechte lahmt
Auf den braunen Tasten
Des goldnen Saitenspiels.

Meine Phantasie, der Riese,
Zuckt ausgestreckt, wie ein Geripp′
Im Staube. Mein Witz, die Rose,
Liegt entblättert, zerknickt.

Fern ist meine Liebe;
Meine Kinder sind ferne; –
Der schwarze, starre, enthaarte Ast
Vermag nicht mehr zu schatten die Lieben!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Linde von Christian Friedrich Daniel Schubart

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Linde“ von Christian Friedrich Daniel Schubart ist eine tiefgründige Reflexion über den Kreislauf des Lebens, den Wandel der Zeit und den Verlust der Jugend. Es vergleicht die Entwicklung eines Baumes, speziell einer Linde, mit dem Lebensweg des lyrischen Ichs, wodurch eine ergreifende Metapher für Vergänglichkeit und Verlust entsteht. Die Struktur des Gedichts spiegelt diesen Wandel wider, beginnend mit der Schönheit des Baumes und der Jugend des Sprechers, über den Herbst und die Alterung, bis hin zum Tod und der Leere.

In den ersten Strophen wird die Schönheit und Pracht der Linde in ihrer Blütezeit beschrieben. Die Natur wird mit lebendigen Bildern und Sinneseindrücken dargestellt: Käfer, geflügelte Ameisen, der Duft der Blüten. Diese lebendigen Beschreibungen stehen im Kontrast zu den späteren, düsteren Beschreibungen des Herbstes, in dem der Baum kahl und verlassen zurückbleibt. Gleichzeitig erinnert sich das lyrische Ich an seine eigene Jugend und vergleicht sich mit dem Baum, der einst genauso üppig und strahlend war. Die „geringelten Seidenlocken“ und der „Gesang“ des Knaben symbolisieren die Unbeschwertheit, Schönheit und Kreativität der Jugend.

Der Übergang vom Frühling zum Herbst markiert einen Wendepunkt im Gedicht. Der Herbststurm wird zur Metapher für das Schicksal, das mit kaltem Wind die Blätter fallen lässt – die Jugend des lyrischen Ichs. Die Beschreibungen werden düsterer und wehmütiger. Die einst schattenspendende Linde und das einst schützende Ich können nun keine Geborgenheit mehr bieten. Der „schwarze, starre, enthaarte Ast“ des Baumes und das verkümmerte lyrische Ich stehen für den Verlust von Kraft, Schönheit und Lebensfreude. Der Gesang ist heiser, die Phantasie „zuckt ausgestreckt“ wie ein Gerippe und der „Witz“ ist „entblättert, zerknickt“.

Die letzten Strophen sind von tiefer Trauer und dem Gefühl der Einsamkeit geprägt. Die Ferne der Liebe und der Kinder unterstreicht das Gefühl des Verlustes und der Isolation. Das lyrische Ich ist nun allein, ohne die Unterstützung und den Schutz, den es einst bot und erhielt. Das Gedicht schließt mit einem Bild der Leere und des Verlustes, wobei die Analogie zwischen dem Baum und dem Menschen eindrücklich die Vergänglichkeit des Lebens und die Unvermeidlichkeit des Alterungsprozesses verdeutlicht.

Insgesamt ist „Die Linde“ ein melancholisches Gedicht, das die universelle Erfahrung des Alterns und des Verlusts thematisiert. Schubart nutzt die Natur, um die menschliche Erfahrung zu spiegeln und eine tiefe Auseinandersetzung mit den Themen Schönheit, Vergänglichkeit, Verlust und Einsamkeit zu ermöglichen. Die Verwendung einfacher, aber eindringlicher Bilder und der Wechsel von Lebendigkeit zu Melancholie machen dieses Gedicht zu einer berührenden Reflexion über das Leben und den Tod.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.