Der Tag, der gestern vergangen
Gestern ist nicht heute mehr: Es ist weg, es ist dahin.
Es verspührt, empfindet, fühlet, sieht und höret unser Sinn
Nichts von seiner Gegenwart. Gestern ist, wie ein Geschrey,
Das im Augenblick verschwindet, auch verschwunden und vorbey.
Alles gestrige Vergnügen, Lachen, Fröhlichkeit und Schertz
Ist nunmehr ein leeres Nichts. Aber auch ein bittrer Schmertz,
Der uns gestern drückt′ und fraß, der uns Marck uns Bein durchwühlet,
Hat mit gestern aufgehört, und wird heute nicht gefühlet.
Eines Reichen fröhlichs Gestern ist mit allem seinen Prangen,
Und des Armen elend Gestern auch mit aller Noth vergangen.
Beydes bringt besondern Trost. Denn die kurtze Daur der Freuden
Tröstet alle, die nicht glücklich: Und, die Pein und Schmertzen leiden,
Werden ungemein gestärckt, wenn sie dieses überlegen,
Und die unleugbare Wahrheit dieser Lehre wohl erwegen:
Indem du gestern keine Plagen
Mehr fühlen kannst, noch darfst ertragen;
So mind′re Kummer und Verdruß,
Und kräncke dich nicht mehr so sehr auf Erden.
Es wird, mit ungehemmtem Fluß,
Ein jedes Heute Gestern werden.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Der Tag, der gestern vergangen“ von Barthold Hinrich Brockes befasst sich mit der Vergänglichkeit der Zeit und den daraus resultierenden Implikationen für das menschliche Empfinden. Das Gedicht beginnt mit einer klaren Feststellung: Gestern ist unwiederbringlich vorbei und hat keine Auswirkungen mehr auf die Gegenwart. Die Sinne des Menschen, so wird argumentiert, können die vergangene Zeit nicht mehr wahrnehmen. Diese anfängliche Aussage etabliert das zentrale Thema der flüchtigen Natur der Vergangenheit.
Im weiteren Verlauf des Gedichts werden die positiven und negativen Aspekte der Vergangenheit gleichermaßen hervorgehoben. Sowohl Freude und Vergnügen als auch Schmerz und Leid, die gestern erlebt wurden, sind nun „ein leeres Nichts“ bzw. „aufgehört“ zu existieren. Diese Gleichbehandlung von angenehmen und unangenehmen Erfahrungen unterstreicht die Neutralität der Zeit. Brockes argumentiert, dass die Vergänglichkeit der Vergangenheit sowohl Trost als auch Ermutigung bietet. Die Freude, so kurz sie auch sein mag, tröstet diejenigen, die kein Glück erfahren, während der Schmerz, der die Vergangenheit prägte, nicht mehr gefühlt wird.
Die letzte Strophe des Gedichts fasst die Kernaussage zusammen und leitet daraus eine moralische Lehre ab. Da die Vergangenheit keine Plagen mehr bereithält, soll der Mensch seinen Kummer und seinen Verdruß mindern und sich nicht länger auf Erden kränken. Die stetige Veränderung und das unaufhaltsame Voranschreiten der Zeit, die jedes „Heute“ unweigerlich zum „Gestern“ macht, werden als Grund für Gelassenheit und Hoffnung präsentiert. Diese Botschaft der Hoffnung ist von großer Bedeutung, da sie den Leser dazu auffordert, die Vergänglichkeit zu akzeptieren und die Gegenwart zu schätzen, ohne sich von vergangenen Freuden oder Leiden beherrschen zu lassen.
Die Sprache des Gedichts ist klar und direkt, ohne übermäßigen Schmuck. Brockes verwendet einfache, verständliche Worte, um seine Botschaft zu vermitteln. Der Reim und der gleichmäßige Rhythmus unterstützen die Lesbarkeit und tragen zur einprägsamen Wirkung des Gedichts bei. Die Wiederholung bestimmter Wörter und Ausdrücke, wie z.B. „gestern“ und die Betonung der Endung „-en“, verstärken die zentrale Thematik und helfen, die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Vergänglichkeit und die daraus resultierende Trostbotschaft zu lenken. Das Gedicht zeugt von Brockes‘ Fähigkeit, philosophische Gedanken in eine zugängliche und tröstliche Form zu kleiden.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.