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Die ächzende Kreatur

Von

An einem Tag, wo feucht der Wind,
Wo grau verhängt der Sonnenstrahl,
Saß Gottes hart geprüftes Kind
Betrübt am kleinen Gartensaal.
Ihr war die Brust so matt und enge,
Ihr war das Haupt so dumpf und schwer,
Selbst um den Geist zog das Gedränge
Des Blutes Nebelflore her.

Gefährte Wind und Vogel nur
In selbstgewählter Einsamkeit,
Ein großer Seufzer die Natur,
Und schier zerflossen Raum und Zeit.
Ihr war, als fühle sie die Flut
Der Ewigkeit vorüberrauschen
Und müsse jeden Tropfen Blut
Und jeden Herzschlag doch belauschen.

Sie sann und saß und saß und sann,
Im Gras die heis′re Grille sang,
Vom fernen Felde scholl heran
Ein schwach vernommner Sensenklang.
Die scheue Mauerwespe flog
Ihr ängstlich ums Gesicht, bis fest
Zur Seite das Gewand sie zog,
Und frei nun ward des Tierleins Nest.

Und am Gestein ein Käfer lief,
Angstvoll und rasch wie auf der Flucht,
Barg bald ins Moos sein Häuptlein tief,
Bald wieder in der Ritze Bucht.
Ein Hänfling flatterte vorbei,
Nach Futter spähend, das Insekt
Hat zuckend bei des Vogels Schrei
In ihren Ärmel sich versteckt.

Da ward ihr klar, wie nicht allein
Der Gottesfluch im Menschenbild,
Wie er in schwerer, dumpfer Pein
im bangen Wurm, im scheuen Wild,
Im durst′gen Halme auf der Flur,
Der mit vergilbten Blättern lechzt,
In aller, aller Kreatur
Gen Himmel um Erlösung ächzt.

Wie mit dem Fluche, den erwarb
Der Erde Fürst im Paradies,
Er sein gesegnet Reich verdarb
Und seine Diener büßen ließ;
Wie durch die reinen Adern trieb
Er Tod und Moder, Pein und Zorn,
Und wie die Schuld allein ihm blieb
Und des Gewissens scharfer Dorn.

Der schläft mit ihm und der erwacht
Mit ihm an jedem jungen Tag,
Ritzt seine Träume in der Nacht
Und blutet über Tage nach.
O schwere Pein, nie unterjocht
Von tollster Lust, von keckstem Stolze,
Wenn leise, leis′ es nagt und pocht
Und bohrt in ihm wie Mad′ im Holze.

Wer ist so rein, daß nicht bewußt
Ein Bild ihm in der Seele Grund,
Drob er muß schlagen an die Brust
Und fühlen sich verzagt und wund?
So frevelnd wer, daß ihm nicht bleibt
Ein Wort, das er nicht kann vernehmen,
Das ihm das Blut zur Stirne treibt
Im heißen, bangen, tiefen Schämen?

Und dennoch gibt es eine Last,
Die keiner fühlt und jeder trägt,
So dunkel wie die Sünde fast
Und auch im gleichen Schoß gehegt;
Er trägt sie wie den Druck der Luft,
Vom kranken Leibe nur empfunden,
Bewußtlos, wie den Fels die Kluft,
Wie schwarze Lad′ den Todeswunden.

Das ist die Schuld des Mordes an
Der Erde Lieblichkeit und Huld,
An des Getieres dumpfem Bann
Ist es die tiefe, schwere Schuld,
Und an dem Grimm, der es beseelt,
Und an der List, die es befleckt,
Und an dem Schmerze, der es quält,
Und an dem Moder, der es deckt.

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Gedicht: Die ächzende Kreatur von Annette von Droste-Hülshoff

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die ächzende Kreatur“ von Annette von Droste-Hülshoff ist eine tiefgründige Reflexion über die Natur des Leids und der Schuld in der Schöpfung. Es beginnt mit einer Beschreibung der düsteren Atmosphäre und der betrübten Stimmung einer Frau, die in der Natur Trost sucht. Diese Einleitung dient als Bühne für die anschließende Erkundung der universellen Erfahrung von Schmerz und der allgegenwärtigen Präsenz des Leidens, nicht nur beim Menschen, sondern in der gesamten Schöpfung.

Das Gedicht geht weiter, indem es die Beobachtungen der Frau in der Natur detailliert beschreibt: den Wind, Vögel, Insekten und das Gras. Diese Bilder von Tieren und Pflanzen, die in einer Welt der Angst und des Strebens gefangen sind, verstärken das Gefühl der universellen Not. Die Autorin nutzt diese Szenen, um eine tiefere, philosophische Betrachtung zu entwickeln. Sie thematisiert die Frage nach der Schuld und deren Auswirkungen auf das Leben. Die Frau erkennt, dass das Leiden in der gesamten Schöpfung widergespiegelt wird und dass die Schuld als eine Art Fluch in der Natur existiert, was sie mit der biblischen Geschichte von Adam und Eva in Verbindung bringt.

Droste-Hülshoff ergründet die Quellen des Leidens. Sie stellt fest, dass die Schuld des Menschen tief in der gesamten Schöpfung wurzelt. Die Schuld erstreckt sich auf alle Lebewesen, von den kleinsten Insekten bis hin zu den Menschen selbst. Sie beschreibt die Schuld als eine Last, die jeder trägt, ohne sie bewusst zu empfinden. Diese unbewusste Last führt zu einer tieferen Sehnsucht nach Erlösung und die ständige Präsenz von Leid.

Im weiteren Verlauf des Gedichts untersucht die Autorin die Auswirkungen dieser universellen Schuld. Sie beschreibt, wie sie sich in den Träumen und im Bewusstsein des Menschen manifestiert, und wie sie zu einem Gefühl der Scham und des Bedauerns führt. Der Fokus liegt dabei auf dem „Mord an der Erde“, einer Metapher für die Zerstörung der Natur und die Missachtung der Schöpfung. Das Gedicht gipfelt in der Erkenntnis, dass die gesamte Schöpfung unter dieser Schuld leidet und nach Erlösung schreit. Die Autorin offenbart ein düsteres Bild der Existenz, das durch die Darstellung der universalen Schuld und des Leidens gekennzeichnet ist.

Abschließend ist „Die ächzende Kreatur“ ein eindringliches Gedicht, das die Themen Schuld, Leid und die Suche nach Erlösung auf eine tiefgründige und eindrucksvolle Weise behandelt. Es ist eine Meditation über die menschliche Existenz und die Beziehung zur Natur, die durch die düstere Atmosphäre und die detaillierten Naturbeschreibungen eine beklemmende Atmosphäre erzeugt. Das Gedicht endet mit einer eher düsteren Schlussfolgerung, die die Tragweite des menschlichen Verhaltens und seine Auswirkungen auf die gesamte Schöpfung verdeutlicht.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.