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Beim Erwachen in der Nacht

Von

Mein Gott, mein erstes Wort, ich bin erwacht!
Fern ist der Tag mit seinem Flammenschilde,
Und wie ein schwarzer Rauch bedeckt die Nacht
Zwar leicht, doch dicht ein jegliches Gebilde.
Fern ist der Mond, der Wächter der Natur,
Und keine Sterne seh′ ich freudig glühen;
Vielleicht bedeckt ein Nebelsee die Flur,
Vielleicht auch mögen dunkle Wolken ziehen.

Stumm ist die Nacht, doch ist sie tatenschwer,
Und Gottes Wunder wird von ihr geboren;
Sie sendet uns im Tau die Ernte her,
Sie ist das Füllhorn, das sich Gott erkoren.
Indes der Mensch dem Leibe zahlt die Schuld
Und nicht vermag an seinen Gott zu denken,
Will ihm der Herr, o übergroße Huld,
Mit milder Hand ein neues Leben schenken.

Doch wie als Friedensengel nicht allein,
Auch als der Tod das Heil uns kommt hernieder,
So flammt in ihr des Blitzes roter Schein,
Und Stürme ziehn durch ihre schwarzen Glieder.
Der Hagel schlägt die Saat, die Welle steigt,
Und heimlich frißt ihr Zahn am sichern Damme;
Der Meltau trifft die Frucht, daß sie erbleicht,
Und furchtbar wächst die unbemerkte Flamme.

Wer weiß, was diese Nacht für mich verhüllt,
Wie nötig Stärke mir am frühen Morgen,
Ob mir nicht wird mein Leidenskelch gefüllt,
Ob zehnfach nicht verdoppelt meine Sorgen?
Ich kann noch viel verlieren in der Welt;
Ich hab′ Geschwister, Mann und liebe Kinder
Und Ehr′ und Gut: wenn dir es, Herr, gefällt,
Nimm Alles hin, ich liebe dich nicht minder!

Was du verhängt, es ist nur dir bekannt,
Ich weiß es nicht und sorg′ es nicht zu wissen;
Um eins nur bitt′ ich, daß in deiner Hand
Ich demutsvoll die Rute möge küssen.
Gib, daß ich nicht in Unmut sinken mag,
Ob auch des Körpers morsch Gebäude wanke,
Daß ich dich lobe bei dem harten Schlag
Und daß ich dir im tiefsten Elend danke.

Ich wünsche nichts; mein Gott, ich stell′ es dir
Anheim in deine väterliche Güte:
Allein die Meinen segne für und für;
Schick deinen Engel, daß er sie behüte.
Zwar such′ ich mutig sie nach Menschenkraft,
So Geist als Leib, zu ihrem Heil zu führen;
Wohl nützt dem Körper, was der Körper schafft,
Doch ihre Seele kann nur Gott regieren.

Gib ihnen Licht, wo es noch finster ist,
Gib ihnen Kraft, wo schon ein Strahl entglommen,
Gib ihnen Trübsal, wenn ihr Herz vergißt,
Ihr eitles Herz, woher das Glück gekommen.
Doch wenn das Leiden sie zum Mißmut drückt,
Gib ihnen Freude, daß sie dich erkennen;
Gib ihnen Trost, wenn einst ihr Leben knickt,
Und laß sie sterbend deinen Namen nennen.

In Jesu Schutz, nach Jesu Will′ und Wort,
In Jesu Namen schließ′ ich meine Augen.
Die Nacht geht ihre stillen Wege fort;
Was kommt, das muß zu Gottes Rathschluß taugen.
Erblick′ ich lebend und gesund den Tag,
So will ich deinen heil′gen Namen preisen;
Doch ob der Tod sein Anteil fordern mag,
in Jesu Wunden läßt sich′s sicher reisen.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Beim Erwachen in der Nacht von Annette von Droste-Hülshoff

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Beim Erwachen in der Nacht“ von Annette von Droste-Hülshoff ist eine tiefgründige Reflexion über die Nacht, die Natur und die Beziehung des Menschen zu Gott. Es beginnt mit einem Gefühl der Erschrockenheit und der Auseinandersetzung mit der Stille und Dunkelheit der Nacht, die als eine Zeit der Geheimnisse und des göttlichen Wirkens dargestellt wird. Die Nacht ist nicht nur eine Zeit der Ruhe, sondern auch der Veränderung und der verborgenen Prozesse, in der die Natur ihren Lauf nimmt und Gottes Wunder geschehen.

In den darauffolgenden Strophen wird die ambivalente Natur der Nacht thematisiert. Einerseits wird sie als Geberin des Lebens und des Segens beschrieben, die Ernte hervorbringt und ein neues Leben schenkt. Andererseits birgt sie auch Gefahren und Zerstörung, dargestellt durch Blitze, Stürme und den Hagel, der die Saat vernichtet. Diese Dualität spiegelt die menschliche Erfahrung wider, in der Freude und Leid, Hoffnung und Furcht untrennbar miteinander verbunden sind. Die Autorin zeigt die Nacht als Spiegelbild des Lebens, das sowohl Schönheit als auch Schrecken birgt.

Die zentralen Verse des Gedichts offenbaren eine tiefe spirituelle Hingabe und Akzeptanz. Die Autorin äußert ihre Sorge um ihre Familie und ihr eigenes Wohlergehen, doch anstatt sich in Angst zu verlieren, unterwirft sie sich dem Willen Gottes. Sie ist bereit, alles zu verlieren, was sie besitzt, und bittet um die Demut, die „Rute“ Gottes zu küssen, das heißt, jegliches Leid und Unglück anzunehmen. Diese Haltung der bedingungslosen Hingabe und des Vertrauens in Gottes Führung ist der Kern der Botschaft des Gedichts.

Der abschließende Teil des Gedichts ist ein Gebet für die Familie und eine abschließende Unterwerfung unter Gottes Willen. Die Autorin bittet um Schutz und Segen für ihre Lieben und betet darum, dass sie ihren Weg finden und Gottes Namen anrufen, selbst in der Stunde des Todes. Das Gedicht schließt mit einer gläubigen Zuversicht und der Hoffnung auf ein sicheres „Reisen“ in Jesu Wunden. Es ist ein Bekenntnis des Glaubens an die Vorsehung und die ewige Hoffnung auf Erlösung, das die Nacht in ein Sinnbild der menschlichen Existenz verwandelt.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.