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Begrüßung des Meeres

Von

Unermeßlich und unendlich,
Glänzend, ruhig, ahnungschwer,
Liegst du vor mir ausgebreitet,
Altes, heil’ges, ew’ges Meer!

Soll ich dich mit Thränen grüßen,
Wie die Wehmuth sie vergießt,
Wenn sie trauernd auf dem Friedhof
Manch ein theures Grab begrüßt?

Denn ein großer, stiller Friedhof,
Eine weite Gruft bist du,
Manches Leben, manche Hoffnung
Deckst du kalt und fühllos zu;

Keinen Grabstein wahrst du ihnen,
Nicht ein Kreuzlein, schlicht und schmal,
Nur am Strande wandelt weinend
Manch ein lebend Trauermal.

Soll ich dich mit Jubel grüßen,
Jubel, wie ihn Freude zollt,
Wenn ein weiter, reicher Garten
Ihrem Blick sich aufgerollt?

Denn ein unermeß’ner Garten,
Eine reiche Flur bist du,
Edle Keime deckt und Schätze
Dein kristallner Busen zu.

Wie des Gartens üpp’ge Wiesen
Ist dein Plan auch glatt und grün,
Perlen und Korallenhaine
Sind die Blumen, die dir blühn.

Wie im Garten stille Wandler
Ziehn die Schiffe durch das Meer,
Schätze fordernd, Schätze bringend,
Grüßend, hoffend, hin und her. –

Sollen Thränen, soll mein Jubel
Dich begrüßen, Ozean?
Nicht’ger Zweifel, eitle Frage,
Da ich doch nicht wählen kann!

Da doch auch der höchste Jubel
Mir vom Aug’ als Thräne rollt,
So wie Abendschein und Frühroth
Stets nur Thau den Bäumen zollt.

Zu dem Herrn empor mit Thränen
War mein Aug’ im Dom gewandt;
Und mit Thränen grüßt’ ich wieder
Jüngst mein schönes Vaterland;

Weinend öffnet’ ich die Arme,
Als ich der Geliebten nah;
Weinend kniet’ ich auf den Höhen,
Wo ich dich zuerst ersah.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Begrüßung des Meeres von Anastasius Grün

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Begrüßung des Meeres“ von Anastasius Grün ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der Ambivalenz des Meeres, die sowohl als Quelle des Lebens als auch als Ort des Todes und der Trauer wahrgenommen wird. Es reflektiert die Unfähigkeit des lyrischen Ichs, das Meer eindeutig mit Freude oder Trauer zu begrüßen, da es in der Natur des Meeres wie auch in der eigenen Erfahrung beides vereint sieht. Die zentrale Frage nach der Art der Begrüßung mündet in der Erkenntnis, dass Freude und Trauer eng miteinander verwoben sind und sich gegenseitig bedingen.

Das Gedicht entfaltet seine Thematik durch eine Reihe von Vergleichen und Kontrasten. Das Meer wird zunächst als „unermeßlich und unendlich“ beschrieben, was seine immense Größe und Geheimnishaftigkeit betont. Im ersten Teil wird das Meer mit einem Friedhof verglichen, der „manches Leben, manche Hoffnung“ verschluckt. Diese melancholische Betrachtung wird durch Bilder von Tränen und Trauer verstärkt, was die dunkle, zerstörerische Seite des Meeres hervorhebt. Im zweiten Teil wird das Meer jedoch mit einem „unermeß’nen Garten“ verglichen, der Reichtum und Leben birgt. Die Schiffe, die durch das Meer fahren, werden wie Wandler in einem Garten dargestellt, die Schätze suchen und bringen.

Die Struktur des Gedichts spiegelt die Ambivalenz des Themas wider. Die abwechselnden Strophen, die das Meer als Friedhof und als Garten darstellen, verdeutlichen die innere Zerrissenheit des lyrischen Ichs. Die Frage nach der angemessenen Begrüßung, ob mit Tränen oder Jubel, bleibt offen und mündet in dem Eingeständnis der Unfähigkeit, sich eindeutig zu entscheiden. Diese Unentschiedenheit wird durch die letzten Strophen verstärkt, in denen die Erfahrung von Freude und Trauer in verschiedenen Lebensbereichen, wie im Gebet, bei der Begegnung mit der Geliebten und bei der Betrachtung des Vaterlandes, dargestellt wird.

Die Verwendung von Bildern wie „Thränen“, „Jubel“, „Friedhof“ und „Garten“ verstärkt die emotionale Tiefe des Gedichts. Die Natur des Meeres wird als Spiegelbild der menschlichen Erfahrung dargestellt. Die letzten beiden Strophen verdeutlichen, dass diese beiden Empfindungen, Freude und Trauer, ineinander übergehen und untrennbar miteinander verbunden sind, wie Morgentau und Abendlicht. Das Gedicht endet mit der Erkenntnis, dass die Seele sowohl in der Freude als auch im Schmerz zuhause ist, und die Möglichkeit der Wahl somit keine Rolle spielt, da beides Teil des menschlichen Lebens ist.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.