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Augen in der Großstadt

Von

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück…
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang, die
dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast’s gefunden,
nur für Sekunden…
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück…
Vorbei, verweht, nie wieder.

Du musst auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Er sieht hinüber
und zieht vorüber…
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Augen in der Großstadt von Kurt Tucholsky

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Augen in der Großstadt“ von Kurt Tucholsky thematisiert die flüchtigen Begegnungen im urbanen Alltag und die tiefe Sehnsucht nach menschlicher Verbindung, die in der Anonymität der modernen Großstadt kaum erfüllt werden kann. In ruhigen, fast resignativen Versen entfaltet Tucholsky ein Bild des vereinsamten Individuums, das im Strom der Massen nach Bedeutung, Nähe und vielleicht sogar Glück sucht – und es doch immer wieder verliert.

Zentrales Motiv des Gedichts ist der „kurze Blick“ – jener flüchtige Moment des Augenkontakts mit einem Fremden, der plötzlich etwas in der Seele des lyrischen Ich auslöst. Die detaillierte Beobachtung – „die Braue, Pupillen, die Lider“ – zeigt, wie intensiv und bedeutungsvoll dieser Augenblick erlebt wird. Doch die Wiederholung der Schlusszeile „Vorbei, verweht, nie wieder“ macht deutlich: Diese Begegnungen sind ohne Folge, sie vergehen spurlos, wie vom Wind davongetragen.

Tucholsky beschreibt die Stadt als einen „Menschentrichter“, in dem unzählige Gesichter wie anonyme Masken vorüberziehen. Trotz der räumlichen Nähe bleibt zwischenmenschliche Nähe aus. Die Großstadt erscheint als Ort der Vereinzelung und flüchtigen Möglichkeiten – ein Raum voller potenzieller Verbindungen, die nie eingelöst werden. Diese Mischung aus Sehnsucht und Vergeblichkeit verleiht dem Gedicht seine melancholische Grundstimmung.

Im letzten Teil erweitert sich die Perspektive: Die Flüchtigkeit der Begegnung bekommt eine existentielle Dimension. Der Fremde, der für einen Moment gesehen wird, könnte „ein Feind“, „ein Freund“ oder „im Kampfe dein Genosse“ sein. Die Kurzlebigkeit des Augenblicks steht dabei stellvertretend für das Unverfügbare des Lebens selbst. So wird der einzelne Blick zum Symbol für die verpassten Chancen und die Unwiederholbarkeit menschlicher Erfahrung.

„Augen in der Großstadt“ ist ein leises, eindringliches Gedicht über das Aufblitzen von Nähe im Strom der Anonymität – und über das schmerzliche Bewusstsein, dass solche Momente einzigartig und unwiderruflich sind. Tucholsky verleiht damit der urbanen Einsamkeit eine poetische Tiefe, die bis heute nachwirkt.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.