Der Spiegel
Wie viele Bilder sind in dir gefangen,
Du hoher, alter, goldgerahmter Spiegel.
Wie viele Lächeln blieben in dir hangen.
Wie viele Eitelkeiten schweigt dein Siegel.
O tausend Blicke, die in dir versunken.
O Hände, Leiber! die in dir verborgen.
O all die Ängste, die du eingetrunken
Von schönen Frauen, die sich alternd sorgen.
Ich ahne dich ganz angefüllt mit Dingen.
Ich fürchte oft, dein Glas müsse zerspringen
Vom ewigen Verhalten deiner Träume.
– Doch du bist tiefer als die tiefsten Räume.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Der Spiegel“ von Francisca Stoecklin beschäftigt sich mit der symbolischen Bedeutung eines Spiegels, der als Zeuge unzähliger menschlicher Erlebnisse und Emotionen fungiert. Der Spiegel wird als „hoch“, „alt“ und „goldgerahmt“ beschrieben, was ihm eine fast ehrwürdige und zeitlose Qualität verleiht. In den ersten beiden Zeilen wird die Vielzahl von „Bildern“ und „Lächeln“ eingefangen, die im Spiegel verharren – eine Metapher für die zahllosen Momentaufnahmen menschlicher Erscheinungen und Emotionen, die der Spiegel über die Jahre hinweg bewahrt hat.
Im weiteren Verlauf des Gedichts wird der Spiegel zur Metapher für Eitelkeit und Vergänglichkeit. Die „Eitelkeiten“ und „Ängste“ der Menschen, besonders der „schönen Frauen, die sich alternd sorgen“, sind in ihm verborgen. Diese Passage zeigt, wie der Spiegel als stiller Beobachter der inneren Kämpfe gegen den Alterungsprozess und die Selbstwahrnehmung fungiert. Die „verborgenen“ Körper und „verblassten“ Ängste weisen darauf hin, wie die Oberflächlichkeit und das Streben nach äußerer Schönheit über die Jahre hinweg mit der Zeit vergehen, doch der Spiegel hält all diese Eindrücke fest.
Der Spiegel erscheint nun als ein Objekt, das tief mit den Geheimnissen und Ängsten der Menschen gefüllt ist, was die Sprecherin in der dritten Strophe „ahnt“. Es wird angedeutet, dass der Spiegel so viele Erlebnisse in sich trägt, dass er förmlich zu „zerspringen“ droht. Dieser Gedanke symbolisiert die Zerbrechlichkeit menschlicher Erinnerungen und die Last der erlebten Emotionen, die in den flimmernden Reflektionen eines Spiegels eingeschlossen sind.
Abschließend wird der Spiegel als mehrdimensionales, fast unbegreifliches Objekt beschrieben, das „tiefer als die tiefsten Räume“ ist. Dies stellt den Spiegel als etwas dar, das nicht nur die äußeren Erscheinungen widerspiegelt, sondern auch die verborgenen und komplexen inneren Welten der Menschen erfasst. Der Spiegel wird hier zu einem Symbol für das Unbewusste und die Komplexität der menschlichen Existenz, die weit über das Sichtbare hinausgeht.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.