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Die verzauberte Jungfrau

Von

Die Jungfrau, die verzaubert dort
Sitzt in der Höhle Grunde,
Hat auf Erlösung fort und fort
Gewartet bis zur Stunde;
Wer sich an die Erlösung wagt,
Muß einen Kuß nur unverzagt
Aufdrücken ihrem Munde.
Allein beim Küssen ziert sie sich,
Und gar nicht hold jungfräulich,
Verwandelnd umgebiert sie sich
In viel Gestalten greulich,
Daß nur ein unerschrockner Mann
Es ansehn und sie küssen kann,
Wie sie sich stellt abscheulich.
Da war ein Schneider jung und keck,
Der kühnste Mann auf Erden,
Dem saß das Herz am rechten Fleck:
Magst du dich nur gebärden!
Und was du tust und was du sagst,
Und wie du dich verwandeln magst,
Du sollst erlöset werden.
Die Jungfrau ward von Angesicht
Zum schrecklichsten der Drachen;
Der tapfre Schneider zittert nicht,
Und küßt sie auf den Rachen;
Die Jungfrau wird ein grimmer Leu,
Schon will der Schneider auch nicht scheu
Zum Kuß sich fertig machen.
Die Jungfrau wird zum Krokodil,
Er will zum Kusse schreiten;
Und wie sie sich verwandeln will,
Er wird sie doch erstreiten.
Zuletzt wird sie ein Ziegenbock,
Da rennt er über Stock und Block:
Dich mag der Teufel reiten!

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Gedicht: Die verzauberte Jungfrau von Friedrich Rückert

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die verzauberte Jungfrau“ von Friedrich Rückert erzählt eine humorvolle, zugleich lehrreiche Geschichte über Mut, Beharrlichkeit und die Grenzen der Belastbarkeit. In einer klassischen Märchenstruktur wird eine Jungfrau vorgestellt, die auf Erlösung wartet, sich aber zur Prüfung des Befreiers in immer schrecklichere Gestalten verwandelt. Nur ein Kuss könnte sie erlösen, doch die Aufgabe erweist sich als zunehmend grotesk und abschreckend.

Das zentrale Thema ist der Mut angesichts des Schreckens und der Widerstandskraft gegen äußere Täuschungen. Der Schneider, ein Symbol für den kleinen, aber entschlossenen Menschen, bleibt zunächst tapfer, selbst als sich die Jungfrau in Drachen, Löwen und Krokodile verwandelt. Erst als sie sich in einen Ziegenbock verwandelt – eine Form, die Lächerlichkeit und Absurdität verkörpert –, verliert er die Geduld und gibt auf. Damit zeigt Rückert, dass wahre Prüfungen nicht nur durch Furcht, sondern auch durch Spott und Groteske erschwert werden können.

Sprachlich nutzt Rückert einen flüssigen, erzählerischen Ton mit humorvollen Wendungen, der an Volksmärchen und Schwänke erinnert. Die aufeinanderfolgende Steigerung der Verwandlungen bis hin zum Ziegenbock betont die Absurdität der letzten Herausforderung und erzeugt eine komische Spannung, die im plötzlichen Abbruch des Erlösungsversuchs gipfelt.

Insgesamt verbindet das Gedicht eine märchenhafte Handlung mit einer menschlich-allzu-menschlichen Einsicht: Mut kann viele Formen von Angst überwinden, doch gegen das Groteske und Lächerliche ist selbst der Tapferste nicht immer gefeit. Rückerts Gedicht zeigt auf heitere Weise, wie dünn die Linie zwischen Heldenmut und menschlicher Überforderung sein kann.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.