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Wehe! Auf!

Von

Wehe über uns! – Wir haben den Traum verloren.
Nackt frieren die Bäume. Regen wusch ihre Schleier ab.
Nicht mehr singt das Haus. Keller wuchs auf bis zum Dach.
Mond starrt unbeweglich. Bleich. Er weint nicht mehr.

Wehe uns! Leben ist uns entschwunden.
Hohl lärmt der Tag. Wald splittert, Gerümpel grau.
Haupt im Azur kreiset nicht mehr, summende Geige.
Höhle ward die Brust. Düster. Es tropft. Es knirscht.

Wehe! Die Sonne zerging. Sirius verlosch. Die Wolke
Floh uns. Nun stehen wir in gelben Jahres Ruine.
Keine Wimper streut Licht. Auge verklang, und die Hand,
Die gestirnte Hand ward trockenes Holz!

Wehe! Unser Herz schlugen wir tot. Die Wand,
Des Himmels schwarzes Gemäuer bedeckt uns. Ach,
Kein Seufzer tröstet uns, kein Lied. Nur Schnee
Verschüttete unser Haar. Ohr Hirn-Muschel
fängt nicht mehr Gottes Gesang.

Verloren sind wir. Wehe! Gespenster Leer,
Vertan in Raum und Zeit. Uhr. Knarrender Stuhl.
Wo blieb des Sterbens Süße? – Wo blieb
der bunte Tod? Wer stahl uns die letzte Lust?

Diebe sind wir! Einander haben wir uns geraubt
Das Leben, den Tod, den größeren Traum, den Schlaf.
Und das teuerste Gut: Musik, unsere Heimat, unserer Mutter Schoß.
Und kosmische Milchbrust: tönendes Firmament!

Wehe über uns, da Träne versiegte! Vors Antlitz
Geschlagene Hand hält mürbe Maske nur noch,
Die schält sich vom Haupt, Tapete, widerlich fremd.
Und die Adern sterben; melodisches Netz zerfällt.

Eines nur blieb uns: der Schmerz! die Flamme!
Fliegende Glut, bohrender Brand. Die Fackel!
Die Flamme blieb uns. Das Tiefste blieb uns.
Der Fluch ist unser, der sausende Schmerz!

So prassele auf, du: Flammender Mensch!
Aus dem Feuer des Schmerzes schaffe die Neue Welt!
Aus der Flamme
Baue dich auf! Bilde den züngelnden Leib! O! Erstrahle-:
Zehrendes Herz, wogendes Hirn.

Schlag empor, Schmerzensmensch, Leuchtkegel, Flammenturm,
lodernder Dom!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Wehe! Auf! von Walter Rheiner

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Wehe! Auf!“ von Walter Rheiner ist ein expressives Klagelied über den Verlust von Sinn, Schönheit und geistiger Heimat in einer zerstörten Welt. Es drückt auf radikale, fast apokalyptische Weise das Lebensgefühl einer entwurzelten Existenz aus – einer Welt nach dem Fall, in der Traum, Musik und kosmische Harmonie untergegangen sind. Gleichzeitig formuliert das Gedicht aus dieser Verzweiflung heraus eine visionäre Hoffnung: eine Wiedergeburt aus dem Schmerz, ein Aufstieg aus der Flamme.

Die ersten Strophen beschreiben eine Welt des Verlustes. Immer wieder kehrt der Aufschrei „Wehe!“ als Ausdruck existenzieller Klage zurück. Die Natur wird als entseelt dargestellt: Bäume sind nackt, der Regen hat ihre „Schleier“ abgewaschen, die Sonne ist „zergangen“, der Himmel erscheint als „schwarzes Gemäuer“. Das Haus, Symbol menschlicher Geborgenheit, ist verstummt – der Keller reicht bis zum Dach, was die Umkehrung aller Ordnung andeutet. Musik, Licht, Wärme – alles ist verschwunden. Die Sprache ist fragmentarisch, aufgeladen, voller Bilder des Verfalls und der Entfremdung.

In der Mitte des Gedichts folgt ein Umschlag ins Selbstanklagende. Der Mensch wird als Täter gezeigt: „Diebe sind wir!“, heißt es, wir haben einander Leben, Tod und den „größeren Traum“ geraubt. Besonders eindrucksvoll ist das Motiv der verlorenen Musik, das als Inbegriff des spirituellen Ursprungs erscheint: die „Musik, unsere Heimat, unserer Mutter Schoß“, wird zur „kosmischen Milchbrust“. Der Verlust der Musik symbolisiert den Bruch mit dem Göttlichen, dem Ursprünglichen.

Doch inmitten dieser Verlorenheit bleibt eines bestehen: der Schmerz. Dieser Schmerz wird nicht mehr als bloße Qual, sondern als schöpferische Kraft begriffen – als „Flamme“, aus der sich der „Flammende Mensch“ erheben soll. Das Gedicht kulminiert in einem Aufruf zur Umwandlung des Leids in schöpferische Energie: „Aus dem Feuer des Schmerzes schaffe die Neue Welt!“ Der Schmerz wird zum Fundament eines neuen, glühenden Menschseins, das in seinen Flammen vergeht und zugleich aufersteht.

„Wehe! Auf!“ ist ein dichterisches Manifest des Expressionismus, in dem Weltuntergangsvisionen und der Ruf nach Erneuerung dicht verschränkt sind. Rheiner verleiht der inneren Zerrissenheit seiner Zeit poetisch Stimme, lässt aber im letzten Aufbäumen des „Schmerzensmenschen“ eine transformative Kraft aufscheinen, die aus dem innersten Tiefpunkt heraus neue Schöpfung möglich macht.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.