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Das Segelschiff des Knaben

Von

Es stand im elterlichen Birkenschranke
Hinter Kram und Glas,
Aber seine Planke
War vom Räubermeere nass.

Durch Bauernmohn und Balsaminen
Glückselig schwebend, schnitt sein Kiel,
Ihm nachzustaunen, war im Knabenspiel
Dein erstes ernstes Dienen.

Und saß dein Kinderschopf gefangen
In Staub- und Schulgeruch –
Schon wieder: die Matrosen sangen
Durch das Vokabelbuch.

Und einmal waren alle tot.
So kam das Schiff gezogen,
Als um dein ländlich frühes Abendbrot
Septemberwespen flogen.

Es fuhr, wo es nicht mehr den Wal gelüstet
Zu schwimmen, aber da bliebst du bei ihm,
Die Segel brausten, in den Wind gebrüstet,
Wie Haufen weißer Cherubim.

– Noch fliegt die Wespe. Noch bist du bereit,
Den alten Segler heimzusteuern
In dichte, wilde Ewigkeit:
Du hörst dorther ganz fern Salute feuern.

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Gedicht: Das Segelschiff des Knaben von Oskar Loerke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das Segelschiff des Knaben“ von Oskar Loerke ist eine poetische Reflexion über das Erwachsenwerden, die kindliche Phantasie und die unaufhaltsame Zeit. Zu Beginn beschreibt der Sprecher das Segelschiff des Knaben, das im „elterlichen Birkenschranke“ steht, hinter „Kram und Glas“, und damit ein Bild der Kindheit widerspiegelt – ein vergängliches, von der Welt der Erwachsenen umgebendes Objekt. Das Schiff ist jedoch auch „vom Räubermeere nass“, was eine Verbindung zur Fantasie des Kindes und zu den Abenteuern in der Vorstellungskraft herstellt. Das Segelschiff symbolisiert hier nicht nur das Spielzeug eines Kindes, sondern auch den Beginn einer Reise, die sowohl die kindliche Unschuld als auch die ersten Schritte in die Welt des Erwachsenwerdens umfasst.

In der nächsten Strophe wird das Kind in seiner Phantasie weiter begleitet: Durch „Bauernmohn und Balsaminen“ schwebt das Schiff, und der Knabe wird als „ernst“ handelnd beschrieben, als ob er sich bereits einer Aufgabe oder Verantwortung widmet. Der Ausdruck „Dein erstes ernstes Dienen“ verweist auf den Moment, in dem das Kind nicht nur spielt, sondern die erste Berührung mit der „ernsthaften“ Welt erfährt. Es ist ein Übergang von der reinen Fantasie in eine Form des Engagements, das mit Verantwortung und der Auseinandersetzung mit der Realität verbunden ist. Doch gleichzeitig bleibt das Kind in seiner spielerischen Welt verhaftet, in der auch der „Vokabelbuch“-Gesang der Matrosen das Schulleben des Kindes widerspiegelt.

Die dritte Strophe markiert einen deutlicheren Bruch zwischen der Kindheit und dem Erwachsenwerden, wenn es heißt: „Und einmal waren alle tot.“ Dies könnte symbolisch für das Ende der unbeschwerten Kindheit stehen – die Matrosen sind „tot“, die kindlichen Fantasien verlieren sich, und die Welt des Spiels wird durch die Verantwortung des Lebens ersetzt. Dennoch bleibt das Bild des Segelschiffs lebendig, das „gezogen“ kommt, während der „Septemberwespen“ um das „Abendbrot“ fliegen – ein Bild des Herbstes, der für den Übergang und das Vergehen steht. Das Segelschiff fährt nun an einen Ort, „wo es nicht mehr den Wal gelüstet zu schwimmen“, was für das Ende der kindlichen Fantasien und das Streben nach immer neuen Abenteuern steht.

Die abschließende Strophe verweist auf die fortwährende Verbindung des Ichs zum „alten Segler“ und dem fortdauernden Drang, das Schiff in die „dichte, wilde Ewigkeit“ zu steuern. Die „Salute feuern“ klingen aus der Ferne, was eine fast epische, heroische Konnotation hat und die ständige Sehnsucht nach der kindlichen Welt des Spiels und der Abenteuer symbolisiert. Es ist eine Rückkehr zur Fantasie, ein Versuch, die Verbindung zu den alten, jugendlichen Träumen und Idealen aufrechtzuerhalten, auch wenn das Leben bereits die Verantwortung des Erwachsenseins fordert. Loerke gelingt es, das Spannungsfeld zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Phantasie und Realität, auf eine Weise darzustellen, die den Leser sowohl mit der Vergänglichkeit der Zeit als auch mit der fortdauernden Sehnsucht nach der verlorenen Unschuld und den Abenteuern der Kindheit konfrontiert.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.