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Winternacht

Von

Das war beredet und besprochen,
Wie lange her, ich ahn‘ es nicht.
Der Tag ist da, die Pulse pochen,
Die Flocken fallen träg und dicht.
Im fremden Dorf, im fremden Saale,
Es kennt uns keiner, welche Lust,
Wir drehn uns unter’m Kerzenstrahle,
Wie schweißt die Liebe Brust an Brust.

Und eng gedrängt im regen Schleifer,
Entzünden wir uns mehr und mehr,
Ich fühl’s, ich bin Besitzergreifer,
Ich weiß auch, das ist dein Begehr.
Geheimnisvoller Schatten breitet
Sich über unser Stelldichein,
O komm, ein Zimmer liegt bereitet,
Ein traut Gemach, wir sind allein.

Der Wirt, mit artigem Verneigen,
Läßt uns hinein, wünscht gute Nacht,
Kein Späher horcht, die Sterne schweigen,
Und stumm ist rings die Winterpracht.
Und wie beim Fest die Hochzeitsgäste
Noch weiter jubeln bei Musik,
Verklingt, verhallt in unserm Neste
Gejauchz und Violingequiek.

Wie bin ich schnell bei Band und Schnallen,
Sie wehrt sich, sie verweigert’s mir,
Und ist mir um den Hals gefallen,
Verwirrung schloß die Augen ihr.
Noch sträubt sie sich, schon fällt die Hülle,
Sie will nicht und sie muß, sie muß,
Und bringt mir ihre süße Fülle,
Und bringt sie mir in Glut und Kuß.

Der Morgen naht in tiefer Stille,
Sie schläft erschöpft im weichen Flaum,
Noch drang nicht durch die Ladenrille
Das Frührot in den heiligen Raum.
Die Ampel gießt in Dämmermilde
Ein Zartlicht ihr um Brust und Arm,
Und auf das himmlische Gebilde
Sah lächelnd ich und liebewarm.

Und eh‘ die Sonne sich erhoben,
Sind wir schon unterwegs im Schnee,
Da hab‘ ich sie emporgehoben,
Und trug sie, ein verzognes Reh.
Und trug sie bis an ihre Kammer,
An’s Erdenende thät ich’s noch,
Sie aber wollte kaum die Klammer
Entlösen meinem Nackenjoch.

Die erste Krähe läßt sich hören,
Leb‘ wohl, mein Schatz, auf Wiedersehn.
Und durch die hochbeschneiten Föhren
Muß nun den Weg allein ich gehn.
Die Sonne steigt, und tausend Funken
Durchglitzern das beeiste Feld.
Von Glück und Liebe bin ich trunken,
O Gott, wie herrlich ist die Welt.

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Gedicht: Winternacht von Detlev von Liliencron

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Winternacht“ von Detlev von Liliencron erzählt in dichten, sinnlichen Bildern eine heimliche Liebesnacht zweier Menschen, die sich in einem fremden Dorf für kurze Zeit in die Abgeschiedenheit zurückziehen. Die Verbindung aus romantischer Sehnsucht, körperlicher Nähe und winterlicher Naturstimmung macht das Gedicht zu einem intensiven lyrischen Erlebnis, das die Liebe als Rauschmoment feiert.

Die Handlung beginnt mit einer erwartungsvollen Anspannung: Das Treffen war „beredet und besprochen“, nun ist der Moment da. Die winterliche Szenerie – dichte Schneeflocken, fremder Ort, Kerzenschein – erzeugt eine Atmosphäre von Intimität und Entrückung. Das Paar ist anonym in einem „fremden Saale“, frei von gesellschaftlichen Blicken, was die Nähe zueinander intensiviert. Besonders der Tanz im Licht der Kerzen bringt diese Körperlichkeit zum Ausdruck: „Wie schweißt die Liebe Brust an Brust.“

Der zweite und dritte Abschnitt beschreiben das Fortschreiten der Annäherung. Die Sprache wird deutlicher, leidenschaftlicher, aber auch von einem Spiel aus Hingabe und Zurückhaltung durchzogen. Die Liebesnacht wird nicht nur körperlich, sondern auch emotional aufgeladen: Trotz der Direktheit bleibt Liliencrons Darstellung poetisch, oft symbolisch überhöht, etwa wenn von einem „heiligen Raum“ oder einem „himmlischen Gebilde“ gesprochen wird. Diese romantische Überhöhung kontrastiert mit der konkreten Sinnlichkeit und verleiht dem Gedicht eine doppelte Tiefe.

Am Morgen, mit dem ersten Licht, kehrt die Welt langsam zurück. Das lyrische Ich trägt die Geliebte wie ein „verzogenes Reh“ zu ihrer Kammer – ein Bild zwischen zärtlicher Fürsorge und mythologischer Idealität. Der Abschied erfolgt leise, fast andächtig, während die Natur in funkelnder Pracht erwacht. Das Gedicht schließt mit einem Bekenntnis zur Schönheit des Moments: „Von Glück und Liebe bin ich trunken, / O Gott, wie herrlich ist die Welt.“ Hier spricht kein Reue, sondern reine, ekstatische Erfüllung.

„Winternacht“ ist ein Gedicht der sinnlichen Liebe, eingebettet in eine idealisierte Winterlandschaft. Es vereint Begehren, Zärtlichkeit, Stille und Ergriffenheit und zeigt Detlev von Liliencrons besonderes Talent, aus scheinbar privaten Augenblicken große poetische Szenen zu gestalten – voller Licht, Wärme und menschlicher Tiefe.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.