Die Stunde schlug
Die Stunde schlug, und deine Hand
Liegt zitternd in der meinen,
An meine Lippen streiften schon
Mit scheuem Druck die deinen.
Es zuckten aus dem vollen Kelch
Elektrisch schon die Funken;
O fasse Mut, und fliehe nicht,
Bevor wir ganz getrunken!
Die Lippen, die mich so berührt,
Sind nicht mehr deine eignen;
Sie können doch, solang du lebst,
Die meinen nicht verleugnen.
Die Lippen, die sich so berührt,
Sind rettungslos gefangen;
Spät oder früh, sie müssen doch
Sich tödlich heimverlangen.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die Stunde schlug“ von Theodor Storm ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der Intensität und dem unausweichlichen Verlauf einer beginnenden Liebesbeziehung. Es beschreibt einen Moment des Übergangs, in dem sich zwei Menschen einander nähern und die ersten, zarten Berührungen und Küsse austauschen. Die Spannung und das Gefühl des Unabänderlichen, das mit dieser Erfahrung einhergeht, werden in den vier Strophen eindrucksvoll dargestellt. Die Wahl der Worte und Bilder, wie „zittern“, „Funken“, „gefangen“ und „heimverlangen“, verstärkt die Dramatik und die Gewissheit des bevorstehenden Schicksals.
Der erste Eindruck, der sich dem Leser offenbart, ist die Nervosität und das Zögern. Die „zitternde Hand“ und die „scheuen“ Lippen zeigen die Unsicherheit und das Auf und Ab der Gefühle, die in der ersten Phase der Liebe vorherrschen. Gleichzeitig wird durch die metaphorische Sprache, wie „aus dem vollen Kelch / Elektrisch schon die Funken“, eine wachsende sexuelle Energie und Anziehungskraft angedeutet. Die Warnung „O fasse Mut, und fliehe nicht / Bevor wir ganz getrunken!“ deutet an, dass der Autor und/oder die Person, die er anspricht, sich der Tragweite dieses Moments bewusst sind und die bevorstehende Verwicklung in die Leidenschaft ahnen. Die Aufforderung, nicht zu fliehen, unterstreicht die Unausweichlichkeit des Geschehens.
In den folgenden Strophen wird die Unwiderruflichkeit dieser Erfahrung deutlich. Die Worte „nicht mehr deine eignen“ und „nicht verleugnen“ drücken aus, dass durch den Kuss und die Berührung eine unauflösliche Bindung entstanden ist. Die Lippen, die sich geküsst haben, gehören nicht mehr nur der Person selbst; sie sind Teil einer gemeinsamen Erfahrung geworden. Der Hinweis auf das „rettungslose Gefangen“ deutet auf die Macht der Liebe hin, die die Liebenden in ihren Bann zieht und sie aneinander bindet, ohne dass sie sich dieser Macht entziehen können.
Das Gedicht endet mit einer Vorhersage des unvermeidlichen Schicksals. Die Aussage „Spät oder früh, sie müssen doch / Sich tödlich heimverlangen“ ist ein Hinweis auf die tragische Dimension der Liebe. Die Sehnsucht, die hier beschrieben wird, ist so stark, dass sie als „tödlich“ bezeichnet wird, was darauf hindeutet, dass die Liebe sowohl erfüllend als auch zerstörerisch sein kann. Storms Gedicht ist somit eine melancholische Reflexion über die Leidenschaft, die Schönheit und die Gefahren der Liebe. Es ist ein Appell an die Sinnlichkeit und die Unvermeidlichkeit des Schicksals.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.