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Die Stille

Von

Hörst du, Geliebte, ich hebe die Hände –
hörst du: es rauscht…
Welche Gebärde der Einsamen fände
sich nicht von vielen Dingen belauscht?
Hörst du, Geliebte, ich schließe die Lider,
und auch das ist Geräusch bis zu dir.
Hörst du, Geliebte, ich hebe sie wieder…
…aber warum bist du nicht hier.

Der Abdruck meiner kleinsten Bewegung
bleibt in der seidenen Stille sichtbar;
unvernichtbar drückt die geringste Erregung
in den gespannten Vorhang der Ferne sich ein.
Auf meinen Atemzügen heben und senken
die Sterne sich.
Zu meinen Lippen kommen die Düfte zur Tränke,
und ich erkenne die Handgelenke
entfernter Engel.
Nur die ich denke: Dich
seh ich nicht.

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Gedicht: Die Stille von Rainer Maria Rilke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Stille“ von Rainer Maria Rilke ist eine melancholische Betrachtung über die Abwesenheit der geliebten Person und die daraus resultierende Wahrnehmung der Stille. Es ist ein Liebesgedicht, das weniger von der Freude des Zusammenseins als von der Sehnsucht und der Leere handelt, die durch die Trennung entstehen. Die Stille wird hier nicht als Abwesenheit von Geräusch, sondern als eine verstärkte Wahrnehmung von Bewegung, Gedanken und Gefühlen dargestellt, die durch die Abwesenheit der Geliebten noch verstärkt werden.

In den ersten vier Versen beschreibt das lyrische Ich verschiedene Gesten – das Heben und Schließen der Hände, der Lider –, die eigentlich dazu dienen, die Aufmerksamkeit der Geliebten zu erregen. Doch die Stille ist allgegenwärtig, und selbst diese scheinbar kleinen Handlungen werden von der Stille „belauscht“. Die rhetorische Frage „aber warum bist du nicht hier“ am Ende des ersten Teils verdeutlicht die zentrale Sehnsucht des Gedichts: die nach der Anwesenheit der geliebten Person. Diese Frage steht als Resümee über dem vorangegangenen Bemühen um Kontaktaufnahme.

Der zweite Teil des Gedichts intensiviert die Erfahrung der Stille. Die kleinste Bewegung des lyrischen Ichs hinterlässt einen deutlichen Abdruck in der „seidenen Stille“. Diese Metapher suggeriert eine fragile, fast greifbare Stille, die alles, was geschieht, verstärkt wahrnimmt. Die „geringste Erregung“ drückt sich „in den gespannten Vorhang der Ferne“ ein, was die Entfernung zwischen den Liebenden noch greifbarer macht. Die Natur wird mit einbezogen, da die Sterne sich auf den Atemzügen des lyrischen Ichs bewegen, und Düfte als „Tränke“ zu den Lippen des lyrischen Ichs kommen.

Das Gedicht erreicht seinen emotionalen Höhepunkt in den letzten drei Versen. Die Vision der „Handgelenke entfernter Engel“ deutet auf eine transzendentale Erfahrung hin, doch die Abwesenheit der Geliebten überschattet alles. Das zentrale Motiv der Sehnsucht kulminiert in den Versen „Nur die ich denke: Dich / seh ich nicht.“ Hier wird die Leere, die durch die Abwesenheit entsteht, auf den Punkt gebracht. Die Stille wird zur Metapher für die Trennung und das ungestillte Verlangen, die die Erfahrung der Liebe überschatten.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.