Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , ,

Beguinage

Von

I

Das hohe Tor scheint keine einzuhalten,
die Brücke geht gleich gerne hin und her,
und doch sind sicher alle in dem alten
offenen Ulmenhof und gehen nicht mehr
aus ihren Häusern, als auf jenem Streifen
zur Kirche hin, um besser zu begreifen
warum in ihnen soviel Liebe war.

Dort knien sie, verdeckt mit reinem Leinen,
sogleich, als wäre nur das Bild der einen
tausendmal im Choral, der tief und klar
zu Spiegeln wird an den verteilten Pfeilern;
und ihre Stimmen gehen den immer steilern
Gesang hinan und werfen sich von dort,
wo es nicht weitergeht, vom letzten Wort,
den Engeln zu, die sie nicht wiedergeben.

Drum sind die unten, wenn sie sich erheben
und wenden, still. Drum reichen sie sich schweigend
mit einem Neigen, Zeigende zu zeigend
Empfangenden, geweihtes Wasser, das
die Stirnen kühl macht und die Munde blaß.

Und gehen dann, verhangen und verhalten,
auf jenem Streifen wieder überquer –
die Jungen ruhig, ungewiß die Alten
und eine Greisin, weilend, hinterher –
zu ihren Häusern, die sie schnell verschweigen
und die sich durch die Ulmen hin von Zeit
zu Zeit ein wenig reine Einsamkeit,
in einer kleinen Scheibe schimmernd, zeigen.
II

Was aber spiegelt mit den tausend Scheiben
das Kirchenfenster in den Hof hinein,
darin sich Schweigen, Schein und Widerschein
vermischen, trinken, trüben, übertreiben,
phantastisch alternd wie ein alter Wein.

Dort legt sich, keiner weiß von welcher Seite,
außen auf Inneres und Ewigkeit
auf Immer-Hingehn, Weite über Weite,
erblindend, finster, unbenutzt, verbleit.

Dort bleibt, unter dem schwankenden Dekor
des Sommertags, das Graue alter Winter:
als stünde regungslos ein sanftgewinnter
langmütig lange Wartender dahinter
und eine weinend Wartende davor.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Beguinage von Rainer Maria Rilke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Beguinage“ von Rainer Maria Rilke beschreibt in zwei Teilen das Leben und die Atmosphäre in einem Beginenhof, einer Gemeinschaft unverheirateter Frauen im mittelalterlichen Europa. Der erste Teil fokussiert auf die rituelle, stille und zurückgezogene Welt der Beginen, während der zweite Teil eine abstraktere Reflexion über das Wesen der Zeit, des Schweigens und der Vergänglichkeit bietet, die durch die Spiegelung im Kirchenfenster verkörpert wird. Die Atmosphäre ist geprägt von Kontemplation, Stille und dem Gefühl der Abgeschiedenheit von der Welt.

Im ersten Teil wird das tägliche Leben der Beginen in einer Reihe von Bildern dargestellt. Die Architektur des Hofes, die Brücke und das Tor suggerieren sowohl Offenheit als auch Abgeschlossenheit. Die Frauen beschränken ihre Aktivitäten auf den Gang zur Kirche und zurück, wo sie in Gebet und Gesang versunken sind. Die Betonung auf Reinheit (Leinen) und Stille (schweigend, verhalten) unterstreicht die spirituelle Ausrichtung ihres Lebens. Die einfache Handlung des Teilens von geweihtem Wasser, das die Stirnen kühlt und die Lippen blass macht, symbolisiert Reinigung und Erneuerung sowie die Hingabe an ein Leben in der Hoffnung. Die abschließende Beschreibung der Frauen, die zu ihren Häusern zurückkehren, und die subtile Erwähnung des Scheins der Einsamkeit, die durch die Fenster reflektiert wird, betont die Abgeschiedenheit und das Zurückgezogensein.

Der zweite Teil des Gedichts wechselt zu einer abstrakteren Ebene und konzentriert sich auf die Reflexionen, die sich in den Kirchenfenstern spiegeln. Das „Schweigen, Schein und Widerschein“, die sich im Glas vermischen, werden metaphorisch als Wein dargestellt, der altert und sich verändert. Diese Metapher deutet auf die Verwandlung und das Vergehen der Zeit hin. Die Bilder von „Außen auf Inneres“ und „Ewigkeit auf Immer-Hingehn“ vermitteln ein Gefühl von transzendenter Weite und dem Verschwinden des Sichtbaren.

Die letzten Zeilen des zweiten Teils bringen ein Gefühl von Melancholie und Erwartung zum Ausdruck. „Das Graue alter Winter“ und das Bild von „langmütig lange Wartenden“ suggerieren die stille Geduld und das Warten auf etwas, das außerhalb der Welt liegt. Die „weinend Wartende“ verstärkt das Gefühl von Verlust und Sehnsucht. Durch die Verwendung dieser Bilder erfasst Rilke die tiefere spirituelle Essenz des Beginenhofes, der sowohl ein Ort der Zuflucht als auch der Kontemplation über die menschliche Existenz ist. Das Gedicht ist eine Meditation über Glauben, Vergänglichkeit und die Suche nach einem tieferen Sinn in der Welt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.