Ich hab ein Auge, das ist blau
Mir gestern Abend geschlagen.
Ich schrie fünfhundertmal »Au! Au!«
Was wollt ich damit sagen?
Ich weiß es heute selber nicht;
Ich hab ein Heldenangesicht.
Ich hab ein Auge, das ist blau
Mir gestern Abend geschlagen.
Ich schrie fünfhundertmal »Au! Au!«
Was wollt ich damit sagen?
Ich weiß es heute selber nicht;
Ich hab ein Heldenangesicht.

Das Gedicht „Ich hab ein Auge…“ von Paul Scheerbart präsentiert sich als ein kurzes, scheinbar kindliches Gedicht, das jedoch durch seine ungewöhnliche Struktur und den scheinbaren Mangel an tieferer Bedeutung eine gewisse Komplexität erzeugt. Der erste Eindruck ist der einer simplen Erzählung über eine körperliche Verletzung, in diesem Fall ein blaues Auge. Die unkonventionelle Darstellung des Vorfalls, einschließlich der Verwendung von kindlicher Sprache und der banalen Frage nach der Bedeutung des Schreis, suggeriert eine Distanzierung von der eigentlichen Erfahrung.
Der zweite Vers des Gedichts, der die Anzahl der Schreie („fünfhundertmal“) und deren Laut („Au! Au!“) angibt, verstärkt den Eindruck von Übertreibung und Unverständlichkeit. Die Frage, was der Protagonist mit seinen Schreien ausdrücken wollte, bleibt unbeantwortet und lenkt die Aufmerksamkeit auf das Unlogische und Irrationale der Situation. Diese Unfähigkeit, die eigene Reaktion zu erklären, deutet auf eine gewisse Desorientierung oder vielleicht sogar auf eine bewusst konstruierte Absurdität hin, die das Gedicht kennzeichnet.
Der letzte Vers, der mit der Feststellung „Ich weiß es heute selber nicht; / Ich hab ein Heldenangesicht“ endet, offenbart eine unerwartete Wendung. Die anfängliche Verwirrung wird durch eine Art Trotz oder Selbstbehauptung abgelöst. Der Protagonist scheint die erlittene Verletzung zu ignorieren oder in den Hintergrund zu drängen, indem er sich selbst als Helden darstellt. Diese Selbstwahrnehmung, die sich von dem zuvor gezeigten Schmerz und der Verwirrung entfernt, erzeugt einen humorvollen und zugleich leicht verstörenden Effekt.
Insgesamt könnte man dieses Gedicht als eine spielerische Auseinandersetzung mit Themen wie Schmerz, Erinnerung und Selbstbild interpretieren. Scheerbart nutzt die scheinbare Einfachheit der Sprache und die kindliche Perspektive, um eine tiefergehende Reflexion über menschliche Emotionen und Reaktionen anzuregen. Das blaue Auge, die Schreie und das „Heldenangesicht“ werden zu Symbolen, die die Widersprüchlichkeit und die oft absurde Natur der menschlichen Erfahrung widerspiegeln. Es ist ein Gedicht, das mit seiner Leichtigkeit verführt, aber gleichzeitig eine subtile Kritik an der Selbstdarstellung und der Art und Weise, wie wir unsere eigenen Erfahrungen wahrnehmen, ausübt.
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