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Phantasie

Von

Wenns wirklich gäb ein jüngst Gericht!
Wenn auf flammendem Wagen,
mit erzenem Gesicht,
die letzte Schlacht zu schlagen
Christus zur Erde führ.

Wenn die heilige Schaar
all der Jahrtausende,
Blumen im weißen, moosigen Haar,
für ihre Kinder: die Menschen, zu zeugen,
vor ihn träte.

Wenn zu beiden Seiten des Throns
wie farblose Mauern,
erstarrt in Angst und Schauern
die lautlosen Menschenmillionen stünden!

In ihrer Mitte
ein schmaler Gang,
darauf die gerufene Seele bang
hinwandelte vor sein Frageauge? …

Ich hör einen Namen …
Wie Halme im Sturm
sind plötzlich diese Lahmen.
Auf dem schmalen Gang
steht ein Weib
mit gesenktem Gesicht.
»Verteidige dich!«
raunts hinter ihm.
Es verteidigt sich nicht.

Mit niederhängenden Armen
steht es stumm vor dem Richter,
und blickt in seiner Augen glimmende Lichter.

Was liegt in diesem Blick?
Vielleicht das Bekenntnis:
»Herr, zu arm bin ich,
um mich verteidigen zu können!«
Stille …..
Da fällt ein Tropfen
und noch einer, noch einer.
Ein Rieseln und Klopfen ..
es regnen die Augen all der Millionen …

Die Flut quillt,
die Flut schwillt,
und von ihr getragen,
steigt die Seele der Sünderin
bis an die Brust des Richters

Wie ein bebend Vöglein
schmiegt sie sich
in die Höhle seiner allmachttragenden Schulter.
Er aber
preßt den Arm an sich,
und lächelt …

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Phantasie von Maria Janitschek

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Phantasie“ von Maria Janitschek entwirft eine eindringliche Vision des Jüngsten Gerichts, die sich von den traditionellen Darstellungen abhebt. Statt einer triumphalen Ankunft Christi und einer klaren Trennung von Gut und Böse fokussiert das Gedicht auf die innere Zerrissenheit einer einzelnen Seele und die transformative Kraft des Mitgefühls. Das flammende Bild des Jüngsten Gerichts wird hier genutzt, um die tiefsten menschlichen Ängste und Sehnsüchte zu erforschen.

Die Beschreibung der Szenerie, in der die Seele vor dem Richter steht, ist von großer Symbolik geprägt. Die „farblosen Mauern“ aus den Menschenmassen, erstarrt in Angst und Schauern, bilden einen Kontrast zu der individuellen Seele, die sich in dieser beklemmenden Umgebung behaupten muss. Die „gerufene Seele“, ein weibliches Wesen, steht stellvertretend für die Menschheit und ihre Sünden. Ihre Stummheit und ihr gesenkter Blick signalisieren Ohnmacht und das Gefühl, nicht in der Lage zu sein, sich zu verteidigen. Dieser Moment der Verzweiflung ist zentral für die Aussage des Gedichts.

Der Umschwung im Gedicht geschieht durch die Tränen der Menschenmenge, die eine Flut auslöst, in der sich die Seele der Sünderin zum Richter erhebt. Diese Flut symbolisiert das kollektive Mitgefühl und die Vergebung. Die Seele, die zuvor stumm und hilflos war, wird von der Welle der Empathie getragen und findet schließlich Zuflucht in der „Höhle seiner allmachttragenden Schulter“. Die Metapher des „bebenden Vögleins“ unterstreicht die Verletzlichkeit der Seele, die sich in der Umarmung des Richters geborgen fühlt.

Das Gedicht kulminiert in der Geste des Richters, der lächelt und seinen Arm um die Seele legt. Dieses Lächeln ist nicht nur ein Zeichen der Vergebung, sondern auch des Verständnisses und der Liebe. Es deutet darauf hin, dass das Jüngste Gericht nicht in erster Linie ein Urteil der Verurteilung, sondern eine Transformation durch Mitgefühl ist. Das Gedicht legt nahe, dass die wahre Erlösung in der menschlichen Fähigkeit zur Empathie und zur Akzeptanz der eigenen Schwächen liegt. Janitschek’s „Phantasie“ ist somit eine ergreifende Reflexion über Schuld, Vergebung und die transzendente Kraft der Liebe.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.