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Ganz

Von

Ein großes Unglück ist geschehn zu Giarre;
das Crucifix beim Pinienwäldchen dort
ist Zeuge dessen.
Nina und Roberta,
zwei Tigerinnen aus Siziliens Brut,
entbrannten beide heiß für Mann.

Die eine weich und blond wie Palmas Tochter,
mit einem Lächeln, das die Männer toll,
die Kinder jauchzen machte, launenhaft
wie bei des Monds geheimnisvollem Wachsen
die See, Roberta, hohen Wuchses, braun,
despotisch, rauh, gefürchtet von den Freunden,
gefürchtet selbst von Jenem, der sie liebte.

Er liebte sie, der junge Sohn der Griechin;
besaß sie doch, was ihm, dem Mann, versagt war,
dämonische Willenskraft, tollkühnen Trotz.
Doch Nina, Nina mit dem Venuslächeln,
mit ihren weichen Gliedern, Nina glitt
wie flüsternde Musik durch seine Träume.
Sie war sein Luxus, war der seidne Fächer,
der seiner Seele linde Kühlung gab,
war das Juwel im Ringe seines Lebens,
der Diebstahl seiner trunknen Phantasie.

Roberta ahnte dunkel sein Geheimnis.
Und einmal trat sie drohend vor die Blonde
und nahm sie an der Hand.
»Du, hüte dich,
Ich nicht mit dir, ich liebe ..
du oder ich«.
»Und wenn – ichs wär«.

Roberta
starrt sie mit aufgerissnen Augen an;
dann sinkt ihr Blick zur Erde schicksalsfinster.
»Ich will ihn fragen, will ihn .. höre, ich ..
zur Stund der Ebbe harr ich deiner hier,
entscheide dich und – denke meiner Worte,
denk ihrer, hörst du es? Ich … teile nicht«.

Die Blonde holt tief Atem. Eisiger Schauer
hat sie erfaßt bei diesem starren Blick.
Sie ahnt Gefahr für jenen, den sie liebt,
den Sohn der Griechin. Ihre heitern Züge
verwandeln sich. Die Zähne tief vergrabend
in ihre roten Lippen, geht sie heim,
und weint und sinnt, und betet zur Madonna.

Am andern Morgen sucht sie zeitlich auf
die Stelle, die Roberta ihr genannt.
Nach nimmer endenwollenden Sekunden
erscheint die Freundin statuenhaft und kalt.

»Ich komme, dir zu künden«, spricht ste ruhig,
»daß ich – dort unterm Kreuz wars, ihn getötet,
ich kann nicht teilen …«

»Und ich« schreit die Blonde,
in ihre Knie brechend, »wollte dir sagen,
daß ich um seiner Ruhe willen mich
entschloß, von ihm zu lassen …«
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Welche wohl
von ihnen beiden, hat ihn mehr geliebt? …

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Ganz von Maria Janitschek

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Ganz“ von Maria Janitschek ist eine düstere Ballade, die von Eifersucht, Besessenheit und Gewalt handelt. Es erzählt die Geschichte einer Dreiecksbeziehung zwischen zwei Frauen, Nina und Roberta, und einem Mann, der am Ende zum Opfer des Konflikts wird. Die Szenerie wird im sonnigen Sizilien verortet, wobei die Landschaft – insbesondere das Crucifix beim Pinienwäldchen – als stiller Zeuge der tragischen Ereignisse dient.

Die Charaktere werden mit starken Gegensätzen dargestellt: Nina, „weich und blond“, verkörpert die feminine Anmut und den verführerischen Luxus, während Roberta, „hohen Wuchses, braun, despotisch“, die stärkere, dominante und unerbittliche Natur repräsentiert. Der Mann, der Sohn der Griechin, wird als Objekt der Begierde zwischen diesen Extremen hin- und hergerissen. Er begehrt die Leidenschaft Robertas und sehnt sich nach Ninas milder Wärme, was ihn letztendlich ins Verderben treibt. Die Kontraste zwischen den Frauen spiegeln sich auch in der Sprache und den Beschreibungen wider.

Das zentrale Motiv des Gedichts ist die zerstörerische Kraft der Eifersucht und des Besitzanspruchs. Roberta, unfähig, die Liebe zu teilen, trifft eine grausame Entscheidung und ermordet den Mann. Nina, die sich entscheiden wollte, auf die Liebe zu verzichten, um seinen Frieden zu wahren, erfährt nach ihrem Entschluss von dem Mord und bricht zusammen. Die letzte Zeile, eine rhetorische Frage, wirft die Frage nach der wahren Liebe in den Raum, nachdem die beiden Frauen durch ihre Handlungen sowohl ihre Liebe als auch die Liebe des Mannes verloren haben.

Die sprachliche Gestaltung des Gedichts unterstützt die düstere Atmosphäre. Die Metaphern, wie Ninas „seidner Fächer“ und das „Juwel im Ringe seines Lebens“, unterstreichen die flüchtige, materielle Natur ihrer Beziehung. Die Verwendung von Bildern wie „Eisiger Schauer“ und „schicksalsfinster“ verstärkt die Bedrohung und das Unheil, die über den Figuren schweben. Der kurze, abgehackte Dialog, der die Zuspitzung der Situation beschreibt, steigert die Dramatik und das Gefühl des drohenden Unheils, das in dem Gedicht vorherrscht.

Abschließend kann man sagen, dass „Ganz“ ein dramatisches Gedicht ist, das sich mit den dunklen Seiten menschlicher Beziehungen und dem verheerenden Einfluss extremer Emotionen auseinandersetzt. Es ist eine Geschichte von Liebe, Hass und Tod, die in einem dramatischen Showdown kulminiert und den Leser mit der Frage nach der Natur der wahren Liebe zurücklässt. Der Ort der Handlung und die Gegensätze zwischen den Charakteren sorgen für eine starke bildliche und emotionale Wirkung, die das Gedicht zu einer eindringlichen Auseinandersetzung mit menschlichen Abgründen macht.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.