Entlarvung
Im blauen Odinsmantel trat ein Wandrer
vor eine Frau und warb um ihre Seele.
Er warb, wie Herrscher werben. Nicht mit Worten,
und nicht mit Blicken.
Seine Rechte glitt
auf ihre Stirn, und, einer goldnen Last gleich,
hat diese Hand aufs Knie das Weib gezwungen.
Wie eine weiße Opfertaube gab sie
die Seele hin dem kühnen Seelenwerber.
Da aber sank der blaue Mantel nieder.
Ein Jüngling, schön wie Evas Erstgeborner,
stand hauptaufreckend vor der Zitternden.
»Hinweg der Trug! Nur nahe ich
in Odins Göttermaske. Dir o Weib
zeig ich mich wahr: als Adams nackten Sohn,
der seine Arme streckt nach deinem «.
Die Frau entfloh voll Graun. Die Thörin die!
Die hat der Trüger ihr geraubt,
was bangt ihr nun die – hinzuwerfen?
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Entlarvung“ von Maria Janitschek entfaltet eine tiefgründige Auseinandersetzung mit den Themen Täuschung, Verführung und der wahren Natur der Liebe. Es beginnt mit dem Bild eines Wanderers, der in einem „blauen Odinsmantel“ auftritt und um die Seele einer Frau wirbt. Diese Anfangszeilen erzeugen eine mystische Atmosphäre und deuten auf einen übernatürlichen oder zumindest außergewöhnlichen Charakter hin, der die Frau mit Autorität und Selbstsicherheit für sich gewinnen will. Die Wahl des Mantels des Odin, des nordischen Gottes, verleiht dem Werber eine Aura der Macht und des Wissens.
Die eigentliche Verführung erfolgt auf subtile, nahezu körperliche Weise, ohne Worte oder Blicke. Die Geste, die „Rechte glitt auf ihre Stirn“, suggeriert eine Art von Gedankenkontrolle oder Manipulation, während die Hand auf dem Knie die Frau unterwirft. Das Bild der „weißen Opfertaube“ betont die Hingabe und das Opfer, das die Frau bringt, indem sie ihre Seele dem Werber darreicht. Diese Szene kulminiert in einem Akt der Kapitulation, der die Frau in eine passive Rolle zwingt, ein Hinweis auf die traditionellen Geschlechterrollen.
Die Wendung kommt mit dem Fall des blauen Mantels, der die wahre Identität des Werbers enthüllt: ein „Jüngling, schön wie Evas Erstgeborner“. Diese Metapher verweist auf die Unschuld und Ursprünglichkeit des Menschen vor dem Sündenfall, doch diese Unschuld ist hier trügerisch. Die wahre Natur der Verführung wird offengelegt: Der Werber ist nicht der mächtige Gott, sondern ein Mensch, der sich der Maske bedient hat, um das Ziel zu erreichen. Dies unterstreicht die Idee, dass Täuschung und Verstellung oft Werkzeuge der Verführung sind.
Der abschließende Dialog verdeutlicht die Verwirrung und das Entsetzen der Frau. Die Erkenntnis, dass sie getäuscht wurde, führt dazu, dass sie vor Grauen flieht. Die rhetorische Frage am Ende, „was bangt ihr nun die – hinzuwerfen?“, wirft die Frage nach der Bedeutung ihres verlorenen Seelenwertes auf. Janitschek thematisiert hier das Problem der falschen Ideale, der Oberflächlichkeit und der Leichtgläubigkeit. Das Gedicht lässt den Leser über die wahre Natur der Sehnsucht und die Gefahren der Täuschung nachdenken.
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Lizenz und Verwendung
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