Am Gipfel
Frei ist die Aussicht! Fahle Morgennebel
hat flammend fortgeküßt des Mittags Mund;
vor meinen Blicken glänzen goldne Thale,
und thun mir ihre letzten Rätsel kund.
Frei ist die Aussicht! Drüben flattern Kränze
um weiße Marmorurnen .. hier, voll Lust,
verheißungsvoll die roten Lippen regend,
beut mir das Leben seine volle Brust.
Ich aber recke meine Arme aus:
in meinen rechten faß ich euch, ihr Toten,
in meinen linken dich, oh quellend Leben!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Am Gipfel“ von Maria Janitschek beschreibt einen Moment der Erhebung und des Zwiespalts, der sich in der Erfahrung des Erreichens eines Gipfels manifestiert. Die eröffnenden Zeilen etablieren eine Atmosphäre der Befreiung und des Überblicks. Der Nebel weicht, der Blick wird frei, und die Welt präsentiert sich in ihrer ganzen Pracht. Die Verwendung von Bildern wie „goldne Thale“ und die Fähigkeit, „letzte Rätsel kund“ zu tun, suggerieren eine Erweiterung des Bewusstseins und die Erkenntnis, die mit dem Erreichen einer erhöhten Position einhergeht.
Im zweiten Abschnitt wird diese Freiheit und der Überblick durch die dualen Elemente von Tod und Leben erweitert. Die „weißen Marmorurnen“ deuten auf das Jenseits, auf Trauer und Erinnerung, während das „Leben“ mit seinen „roten Lippen“ und der „vollen Brust“ für Sinnlichkeit, Genuss und das Versprechen von Erfüllung steht. Dieser Kontrast verdeutlicht die existenzielle Frage, die sich am Gipfel stellt: die Konfrontation mit der Endlichkeit und der gleichzeitigen Verlockung des Lebens.
Der letzte Abschnitt kulminiert in einer Geste des Umarmens, des Ergreifens beider Extreme. Der Sprecher reckt die Arme aus und vereint in ihnen die Gegensätze: die Toten und das quellende Leben. Diese Vereinigung ist nicht als Lösung des Konflikts, sondern als Akzeptanz der Dualität zu verstehen. Es ist ein Bekenntnis zur gleichzeitigen Umarmung von Tod und Leben, von Vergangenheit und Gegenwart, von Verlust und Freude. Die Arme werden zu einem Symbol der Versöhnung und der umfassenden Erfahrung des Menschseins.
Die Metaphorik des Gipfels dient als Rahmen für eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen des menschlichen Daseins. Das Gedicht zeugt von einem Bewusstsein für die Vergänglichkeit, aber auch von der Begeisterung für das Leben. Janitschek gelingt es, eine universelle Erfahrung in poetische Bilder zu kleiden, die sowohl die Schönheit des Überblicks als auch die Tiefe des menschlichen Erlebens einfangen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.