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Letzte Fahrt

Von

An meinem Todestag – ich werd ihn nicht erleben –
da soll es mittags Rote Grütze geben,
mit einer fetten, weißen Sahneschicht …
Von wegen: Leibgericht.

Mein Kind, der Ludolf, bohrt sich kleine Dinger
aus seiner Nase – niemand haut ihm auf die Finger.
Er strahlt, als einziger, im Trauerhaus.
Und ich lieg da und denk: „Ach, polk dich aus!“

Dann tragen Männer mich vors Haus hinunter.
Nun faßt der Karlchen die Blondine unter,
die mir zuletzt noch dies und jenes lieh …
Sie findet: Trauer kleidet sie.

Der Zug ruckt an. Und alle Damen,
die jemals, wenn was fehlte, zu mir kamen:
vollzählig sind sie heut noch einmal da …
Und vorne rollt Papa.

Da fährt die erste, die ich damals ohne
die leiseste Erfahrung küßte – die Matrone
sitzt schlicht im Fond, mit kleinem Trauerhut.
Altmodisch war sie – aber sie war gut.

Und Lotte! Lottchen mit dem kleinen Jungen!
Briefträger jetzt! Wie ist mir der gelungen?
Ich sah ihn nie. Doch wo er immer schritt:
mein Postscheck ging durch sechzehn Jahre mit.

Auf rotem samtnen Kissen, im Spaliere,
da tragen feierlich zwei Reichswehroffiziere
die Orden durch die ganze Stadt
die mir mein Kaiser einst verliehen hat.

Und hinterm Sarg mit seinen Silberputten,
da schreiten zwoundzwonzig Nutten –
sie schluchzen innig und mit viel System.
Ich war zuletzt als Kunde sehr bequem.

Das Ganze halt! Jetzt wird es dionysisch!
Nun singt ein Chor: Ich lächle metaphysisch.
Wie wird die schwarzgestrichne Kiste groß!
Ich schweige tief.
Und bin mich endlich los.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Letzte Fahrt von Kurt Tucholsky

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Letzte Fahrt“ von Kurt Tucholsky entwirft eine sarkastische, schwarzhumorige Vision des eigenen Todes und der damit verbundenen Abschiedsrituale. Es ist geprägt von einer tiefen Melancholie, die jedoch stets von ironischer Distanz unterbrochen wird. Das lyrische Ich blickt aus der Perspektive des Todes auf seine eigene Beerdigung und kommentiert das Geschehen, die anwesenden Personen und die Abschiedszeremonie mit einer Mischung aus Zynismus, Sehnsucht und Selbstironie.

Die Struktur des Gedichts ist durch eine Aneinanderreihung von Bildern und Szenen gekennzeichnet, die das Leben des lyrischen Ichs widerspiegeln. Es werden verschiedene Lebensabschnitte und Beziehungen angedeutet, von der Kindheit (Ludolf) über Liebesbeziehungen (die Blondine, Lotte, die Matrone) bis hin zu den beruflichen und gesellschaftlichen Kontakten (die Damen, die Offiziere, die Nutten). Die Aufzählung dieser Personen und Ereignisse deutet auf ein erfülltes, aber auch von Brüchen und Enttäuschungen geprägtes Leben hin. Der sarkastische Unterton deutet darauf hin, dass das lyrische Ich mit einigen dieser Erfahrungen gehadert hat, oder sie schlichtweg in Frage stellte.

Die Verwendung von Alltagssprache, gepaart mit überraschenden Bildern und Reimen, verstärkt den ironischen Charakter des Gedichts. Der Wunsch nach Roter Grütze mit Sahne am Todestag („Von wegen: Leibgericht“) ist ein Beispiel für die skurrile, fast kindliche Sehnsucht nach Trost. Die Erwähnung von Ludolf, der sich die Nase bohrt, oder die Beschreibung der Trauerbekleidung („Sie findet: Trauer kleidet sie.“) entlarven die Oberflächlichkeit und Scheinheiligkeit, die das lyrische Ich in der Trauergemeinde wahrnimmt.

Das Gedicht gipfelt in einem Höhepunkt der Ironie und des Sarkasmus. Die Anwesenheit von Nutten, die er als „Kunde sehr bequem“ kannte, und der Gesang eines Chors („Ich lächle metaphysisch“) unterstreichen die Distanz des lyrischen Ichs zu den traditionellen Ritualen des Abschieds. Das abschließende Schweigen und das „Sich-Lossein“ deuten schließlich auf eine Akzeptanz des Todes und eine Befreiung von den Zwängen des Lebens hin. Die „schwarzgestrichne Kiste“ symbolisiert dabei die endgültige Trennung und die Rückkehr ins Nichts.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.