Blumentag
Der dicke Bürger greift in seine Weste:
»Da nimm! mein Kind!« –
Er gibt den Sechser mit gerührter Geste –
die Träne rinnt! –
Das Auge tropft. Der dicke Bauch schlägt Wellen.
Er schenkte was!! – –
In solchen Patriotenrummelfällen
da tut er das!
Er sorgt für Veteranenpensionierung
von Stolz geschwellt –
Bei uns hat nämlich dafür die Regierung,
weiß Gott! kein Geld.
Denn sie muß eifrig auf die ††† Roten fahnden –
sie darf nicht ruhn.
Sie muß politische Verbrechen ahnden –
sie hat zu tun –!!
Das leert vor allem andern ihre Kassen. –
Fürs Kriegerpack
da betteln sie derweil auf allen Gassen –
Kornblumentag …
Der Bürger denkt bei Tisch, nach süßen Torten
und blauem Aal,
(Hupp! stößt′s ihm auf – ): »Wie sind wir allerorten
christlich-sozial!« –
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Blumentag“ von Kurt Tucholsky ist eine beißende Satire auf die Doppelmoral und Scheinheiligkeit des Bürgertums in der Weimarer Republik. Es zeichnet das Bild eines wohlhabenden Bürgers, der scheinbar großzügig für wohltätige Zwecke spendet, aber gleichzeitig die eigentlichen Ursachen des Elends ignoriert und die politische Lage mit seinen bürgerlichen Interessen verknüpft.
Tucholsky beginnt mit einer Szene, in der der Bürger einem Kind einen Sechser schenkt, begleitet von theatralischer Rührung. Der „Träne“ und die „gerührte Geste“ sind übertrieben und entlarven die Künstlichkeit dieser Wohltätigkeit. Der Bürger handelt nicht aus echter Empathie, sondern um sein eigenes Gewissen zu beruhigen und sich in seiner eigenen Selbstwahrnehmung als gütig und wohlwollend zu bestätigen. Diese oberflächliche Großzügigkeit kontrastiert mit der Kritik an den politischen Umständen, die im weiteren Verlauf des Gedichts deutlich wird.
Die folgenden Strophen offenbaren die eigentlichen Prioritäten des Bürgers und der Regierung. Während der Bürger seine „Veteranenpensionierung“ befürwortet und sich damit als Patriot inszeniert, wird gleichzeitig die mangelnde finanzielle Unterstützung für soziale Belange beklagt. Die Regierung, so die Implikation, ist zu sehr mit der „Roten Fahndung“ und der Verfolgung politischer Gegner beschäftigt, um sich um die wirklichen Bedürfnisse der Bevölkerung zu kümmern. Dies offenbart eine politische Schieflage, bei der ideologische Interessen über das Wohlergehen der Bürger gestellt werden.
Das Gedicht endet mit einer ironischen Wendung. Der Bürger, nach einem üppigen Mahl, inklusive „süßen Torten“ und „blauem Aal“, stößt scheinbar unbewusst aus und äußert das Gefühl, wie „christlich-sozial“ doch alle seien. Diese Aussage unterstreicht die Doppelmoral und das Selbstbild des Bürgers, der sich in einer heuchlerischen Scheinwelt bewegt. Die Ironie kulminiert in dem Ausdruck „Blumentag …“, der auf den Gedenktag der Kriegsopfer anspielt und so die Diskrepanz zwischen den kleinen wohltätigen Gesten und den großen politischen Ungerechtigkeiten pointiert. Tucholsky nutzt hier eine klare, sarkastische Sprache, die typisch für seine politische Satire ist, um die Widersprüche und Verlogenheiten der Gesellschaft seiner Zeit bloßzustellen.
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Lizenz und Verwendung
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