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Blick in den Spiegel

Von

Mein Spiegel ist von Herbstnebeln blind.
Ich kann nicht mehr in den Mai zurück.
Ich flechte aus meinen weißen Haaren mir einen langen Strick.
Ich schlinge ihn um das Horn des Mondes am Himmel fest,
Dass er nicht reißt, wenn mich der Frühwind tanzen lässt.
Mein Zunge wird mir aus den Zähnen jappen.
Reißt sie heraus, gönnt einem Hunde den Happen.
(Er wird fortan nur noch nach schönen Versen schnappen.)

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Gedicht: Blick in den Spiegel von Klabund

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Blick in den Spiegel“ von Klabund ist ein düsteres Selbstporträt, das die Vergänglichkeit und den Verlust der Jugend thematisiert. Das lyrische Ich blickt in einen trüben Spiegel, der die klare Sicht auf die Vergangenheit, auf den „Mai“, verwehrt. Die Metapher des Herbstnebels verdeutlicht die eingetrübte Wahrnehmung und die Melancholie, die über dem Sprecher liegt. Die Unfähigkeit, in die Vergangenheit zurückzukehren, wird als Verlust empfunden, der den Wunsch nach einem radikalen Ausweg, dem Tod, weckt.

Das zentrale Bild des Stricks, der aus den „weißen Haaren“ geflochten wird und am „Horn des Mondes“ befestigt wird, ist von großer symbolischer Bedeutung. Der Strick steht für den Selbstmord als Befreiung aus dem Leiden des Alterns und der Einsamkeit. Das „Horn des Mondes“ dient hier als Ankerpunkt, der die Verbindung zur Welt symbolisiert, eine letzte Verbindung, bevor das lyrische Ich sich ganz von ihr verabschiedet. Die Vorstellung, vom Frühwind, der für die Jugend und das Leben steht, „tanzen gelassen“ zu werden, deutet auf die Sehnsucht nach Freiheit und Erlösung hin.

Die abschließenden Verse verstärken die Tragik und die bizarre Natur des Gedichts. Das Herausreißen der Zunge, die nicht mehr fähig ist, wahre Worte zu finden, und deren Übergabe an einen Hund, der nur noch nach „schönen Versen schnappen“ wird, ist ein groteskes Bild. Es spiegelt die Selbstverachtung des lyrischen Ichs wider, die eigene Unfähigkeit, Schönheit und Sinn in der alternden Welt zu erkennen. Die Zunge als Werkzeug der Sprache, der Kunst und der Kommunikation verliert ihre Funktion, was den Verlust von Lebensfreude und Ausdrucksmöglichkeit verdeutlicht.

Insgesamt ist das Gedicht eine eindringliche Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit, der Alterung und den damit verbundenen Ängsten und der Hoffnungslosigkeit. Klabund verwendet eine klare, bildhafte Sprache, um die tiefe Traurigkeit und den Wunsch nach einem Ausweg aus dem Kreislauf des Lebens und des Alterns darzustellen. Der „Blick in den Spiegel“ wird so zu einem Blick in die Abgründe der eigenen Existenz, in der die Jugend unwiederbringlich verloren ist und die Zukunft von Verfall und Tod geprägt scheint.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.