Das Glück der Unbemerktheit
Beglückt die Menschen, welche unbemerkt
Und friedlich durch das Leben gehen,
Sie werden von des Kummers Aug‘,
Von der Verzweiflung übersehen.
Gemüthlich wandeln sie auf ihrem Weg,
Vergnügt mit dem, was sie erwerben,
Sind gleichmüthig in gut und böser Zeit
Und pflegen friedlich hinzusterben.
Doch jene, welchen das Genie
Den Stempel auf die Stirne drücket,
Sind es, auf die die düstre Schwermuth früh
Das scharfgeschliffene Messer zücket.
Ihr Geist, der auf Gedanken thronet, weiß
In’s Reich der Phantasie zu dringen –
Ach, aber die erboste Wirklichkeit
Lähmt ihnen allzuoft die Schwingen.
Sie kränkeln an dem Spott der kalten Welt,
Sie wissen von gebrochnen Eiden,
Und, o wie oft muß nicht ihr stolzes Herz
Schwer durch Zurücksetzungen leiden.
Wie manche Nächte haben sie durchwacht,
Und an wie vielen kummervollen Tagen,
Erlahmten sie im Haschen nach dem Ruhm,
An einem räthselhaften Zagen.
Der du demüthig auf dem Wege gehst,
Der dich zu Ruh und Frieden führte,
O murre nicht, weil dir der Genius
Die Stirne küssend nicht berührte.
Wenn dir die goldnen Flügelkinder nicht
Holdlächelnd in dem Traum erscheinen,
So flieht doch auch der Schlaf dein Lager nicht.
So brauchst du einsam nicht zu weinen.
Und weßhalb läßt das flücht’ge Lebensöl –
Der arme Dichter sich so rasch verzehren?
Warum weiß er oft mit Heroenmuth,
Des Lebens Nothdurft zu entbehren?
Warum geht er so bleich und matt dahin
Und muß vielleicht schon vor den Jahren sterben?
Ach! alles nur um sich ein wenig Ruhm –
Noch nach dem Tode zu erwerben.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Das Glück der Unbemerktheit“ von Kathinka Zitz thematisiert einen tiefgründigen Kontrast zwischen einem unaufgeregten, unbemerkten Leben und dem Schicksal derjenigen, die durch ihren Intellekt und ihre künstlerische Begabung herausragen. Es beginnt mit der Beschreibung der Menschen, die ein friedliches und unauffälliges Dasein führen, frei von den Sorgen und dem Leid, das die Welt mit sich bringt. Diese Menschen werden von der Verzweiflung und dem Kummer verschont, während sie ihren Alltag in Gelassenheit bewältigen.
Im Gegensatz dazu steht die Beschreibung der Genies, die durch ihren Geist und ihre Kreativität gekennzeichnet sind. Das Gedicht hebt hervor, dass diese Menschen oft frühzeitig von der Schwermut heimgesucht werden. Ihr scharfer Verstand und ihre Fähigkeit, in die Welt der Fantasie einzutauchen, werden durch die Realität, die ihnen oft Grenzen setzt, behindert. Sie leiden unter dem Spott der Welt, erleben gebrochene Versprechen und müssen oft Zurücksetzungen hinnehmen, was ihr stolzes Herz belastet.
Das Gedicht gipfelt in einem Appell an diejenigen, die ein bescheidenes Leben führen, sich nicht nach dem Ruhm und der Anerkennung der Genies zu sehnen. Zitz erinnert an die Vorteile der Unauffälligkeit, wie Ruhe und Frieden, und warnt vor den Opfern, die die Künstler und Dichter für ihren Ruhm bringen müssen. Die letzten Strophen stellen die Frage nach dem Sinn des Leidens und des Opfers, die mit dem Streben nach Ruhm verbunden sind. Der Dichter scheint sich frühzeitig zu verzehren, um nach dem Tod Ruhm zu erlangen.
Der zentrale Konflikt des Gedichts liegt in der Gegenüberstellung von innerem Frieden und äußerer Anerkennung. Zitz impliziert, dass das Streben nach Ruhm und Genie mit großen Opfern verbunden ist, einschließlich des Verlustes von Glück und Gelassenheit. Die klagende Frage „Und weßhalb läßt das flücht’ge Lebensöl – / Der arme Dichter sich so rasch verzehren?“ verdeutlicht das Bedauern über das Leid und die Entbehrungen, die mit dem künstlerischen Schaffen einhergehen.
Insgesamt ist „Das Glück der Unbemerktheit“ eine melancholische Reflexion über die Wahl zwischen einem friedlichen, aber unauffälligen Leben und einem Leben voller Leidenschaft, Kreativität und der potenziellen Anerkennung, die aber auch von großen Härten geprägt ist. Das Gedicht plädiert indirekt für die Akzeptanz eines einfachen Lebens, frei von den Lasten, die mit dem Streben nach Ruhm einhergehen, und betont somit die Wertschätzung von innerem Frieden gegenüber äußerer Anerkennung.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.