Waldmädchen
Bin ein Feuer hell, das lodert
Von dem grünen Felsenkranz,
Seewind ist mein Buhl und fodert
Mich zum lustgen Wirbeltanz,
Kommt und wechselt unbeständig.
Steigend wild,
Neigend mild,
Meine schlanken Lohen wend ich:
Komm nicht nah mir, ich verbrenn dich!
Wo die wilden Bäche rauschen
Und die hohen Palmen stehn,
Wenn die Jäger heimlich lauschen,
Viele Rehe einsam gehn.
Bin ein Reh, flieg durch die Trümmer,
Über die Höh,
Wo im Schnee
Still die letzten Gipfel schimmern,
Folg mir nicht, erjagst mich nimmer!
Bin ein Vöglein in den Lüften,
Schwing mich übers blaue Meer,
Durch die Wolken von den Klüften
Fliegt kein Pfeil mehr bis hieher,
Und die Au′n und Felsenbogen,
Waldeseinsamkeit
Weit, wie weit,
Sind versunken in die Wogen –
Ach, ich habe mich verflogen!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Waldmädchen“ von Joseph von Eichendorff entfaltet ein faszinierendes Spiel mit Identität und Vergänglichkeit, eingebettet in die romantische Naturpoesie. Die lyrische Figur, das „Waldmädchen“, präsentiert sich dem Leser in drei verschiedenen Metamorphosen – als Feuer, Reh und Vogel – und lädt so den Leser auf eine Reise durch die Elemente ein. Diese Wandlungsfähigkeit deutet auf eine tiefere, schwer fassbare Natur des lyrischen Ichs hin, das sich der konkreten Identifizierung entzieht.
Die erste Strophe beschreibt das Waldmädchen als „Feuer hell, das lodert“, das auf einem Felsenkranz tanzt und sich dem Seewind hingibt. Hier wird das Feuer als ein Element der Zerstörung und der Anziehungskraft dargestellt, die Warnung „Komm nicht nah mir, ich verbrenn dich!“ betont die gefährliche Schönheit des lyrischen Ichs. Diese Warnung zieht sich durch das gesamte Gedicht und verweist auf die Unerreichbarkeit und Flüchtigkeit der Natur, die sich dem menschlichen Zugriff entzieht. Das Feuer symbolisiert also die unbändige Kraft der Natur, die sowohl fasziniert als auch abstößt.
In der zweiten Strophe verwandelt sich das Waldmädchen in ein Reh, das durch die Wildnis flieht, und das dem Leser die Aussage macht „Folg mir nicht, erjagst mich nimmer!“. Die Natur wird hier als Ort der Freiheit und der unaufhaltsamen Bewegung dargestellt. Das Reh, als scheues Tier, symbolisiert die ungreifbare und flüchtige Natur. Der Leser wird aufgefordert, die Verfolgung aufzugeben, da die Natur sich der menschlichen Kontrolle entzieht. Die Beschreibung der Umgebung, von rauschenden Bächen bis zu verschneiten Gipfeln, vertieft die romantische Atmosphäre.
Die dritte Strophe gipfelt in der Metamorphose zu einem Vogel, der in die Weite des Himmels entflieht. Der Flug des Vogels symbolisiert Freiheit, Unbeschwertheit und die Überwindung aller Grenzen. Das Ende, das „Ach, ich habe mich verflogen!“, deutet auf die Vergänglichkeit und Unfassbarkeit des lyrischen Ichs hin. Das Gedicht ist somit ein Plädoyer für die unberührte Schönheit der Natur und die unaufhaltsame Bewegung und Veränderung, die in ihr innewohnt. Das Waldmädchen, als Verkörperung dieser Natur, entzieht sich dem Zugriff des Betrachters und bewahrt somit seine ewige Jugend und Schönheit.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.