Mahnung
Genug gemeistert nun die Weltgeschichte!
Die Sterne, die durch alle Zeiten tagen,
ihr wolltet sie mit frecher Hand zerschlagen
und jeder leuchten mit dem eigenen Lichte.
Doch unaufhaltsam rucken die Gewichte,
von selbst die Glocken von den Türmen schlagen
der alte Zeiger, ohne euch zu fragen,
weist flammend auf die Stunde der Gerichte.
O stille Schauer, wunderbares Schweigen,
denn heimlich flüsternd sich die Wälder neigen
die Täler alle geisterbleich versanken,
und in Gewittern von den Bergesspitzen
der Herr der Weltgeschichte schreibt mit Blitzen –
denn seine sind nicht euere Gedanken.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Mahnung“ von Joseph von Eichendorff ist eine eindringliche Warnung vor Hybris und dem Größenwahn des Menschen. Es konfrontiert den Leser mit der Vergänglichkeit menschlicher Bemühungen angesichts der ewigen Natur und der göttlichen Ordnung. Die ersten beiden Strophen zeichnen ein Bild menschlichen Übermuts, in dem die Menschen versuchen, die Welt nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten und die kosmische Ordnung zu verändern, indem sie „die Sterne … mit frecher Hand zerschlagen“ wollen. Diese Ambition wird als arrogant und vermessen dargestellt. Die Verwendung des Verbs „zerschlagen“ unterstreicht die Gewalt, die in diesem Versuch liegt, die natürliche Ordnung zu stören.
Die zweite Strophe verstärkt die Botschaft der Unausweichlichkeit und des Scheiterns. Der „alte Zeiger“ und die „Glocken“ verkörpern die Zeit und die unabänderliche Naturgesetze, die sich nicht von menschlichen Ambitionen beirren lassen. Sie „schlagen“ und „weisen flammend auf die Stunde der Gerichte“. Diese bildhafte Sprache deutet auf eine kommende Abrechnung hin, ein Moment, in dem menschliches Handeln bewertet wird und die Konsequenzen der Hybris deutlich werden. Der Hinweis auf „die Stunde der Gerichte“ ist ein Hinweis auf die göttliche oder übernatürliche Ordnung, die über dem menschlichen Streben steht.
Die dritte Strophe markiert eine dramatische Veränderung in der Atmosphäre. Das Gedicht wechselt von der Beschreibung des menschlichen Handelns zu einer Szene von Ehrfurcht und Unterwerfung. Die Natur wird lebendig dargestellt: „heimlich flüsternd sich die Wälder neigen / die Täler alle geisterbleich versanken.“ Diese Verse erzeugen eine Atmosphäre der Spannung und des Staunens. Der Wechsel zu dem Bild von Gewittern und Blitzen, mit denen „der Herr der Weltgeschichte“ schreibt, verstärkt das Gefühl der Demut und der Erkenntnis der menschlichen Begrenzung.
Das abschließende Fazit des Gedichts ist unmissverständlich: „denn seine sind nicht euere Gedanken.“ Diese Zeile verdeutlicht die Kluft zwischen menschlichem Streben und der göttlichen oder natürlichen Ordnung. Es ist ein Aufruf zur Bescheidenheit und zur Akzeptanz der eigenen Grenzen. Das Gedicht mahnt den Leser, sich nicht von dem Irrglauben täuschen zu lassen, die Welt durch eigenes Handeln kontrollieren zu können. Stattdessen wird die Notwendigkeit betont, sich der übergeordneten Ordnung unterzuordnen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.