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Weltgeheimnis

Von

Der tiefe Brunnen weiß es wohl,
Einst waren alle tief und stumm,
Und alle wußten drum.

Wie Zauberworte, nachgelallt
Und nicht begriffen in den Grund,
So geht es jetzt von Mund zu Mund.

Der tiefe Brunnen weiß es wohl;
In den gebückt, begriffs ein Mann,
Begriff es und verlor es dann.

Und redet‘ irr und sang ein Lied –
Auf dessen dunklen Spiegel bückt
Sich einst ein Kind und wird entrückt.

Und wächst und weiß nicht von sich selbst
Und wird ein Weib, das einer liebt
Und – wunderbar wie Liebe gibt!

Wie Liebe tiefe Kunde gibt! –
Da wird an Dinge, dumpf geahnt,
In ihren Küssen tief gemahnt…

In unsern Worten liegt es drin,
So tritt des Bettlers Fuß den Kies,
Der eines Edelsteins Verlies.

Der tiefe Brunnen weiß es wohl,
Einst aber wußten alle drum,
Nun zuckt im Kreis ein Traum herum.

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Gedicht: Weltgeheimnis von Hugo von Hofmannsthal

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Weltgeheimnis“ von Hugo von Hofmannsthal beschreibt auf poetische Weise das ungreifbare Wissen, das den menschlichen Geist durchzieht und sich immer wieder entzieht. Der „tiefe Brunnen“ fungiert als Symbol für eine unendliche Quelle des Wissens, die von allen gekannt wird, jedoch immer schwerer fassbar wird. Anfangs scheinen alle es zu wissen, doch je mehr es weitergegeben wird, desto weniger begreifen die Menschen den wahren Inhalt – ein Wissen, das mit jeder Generation mehr verwässert wird.

Hofmannsthal setzt auf eine mystische, beinahe transzendentale Bildsprache, um die Flucht vor der Wahrheit darzustellen. Die „Zauberworte“ und „Mund zu Mund“ verdeutlichen die flüchtige Natur des Wissens, das sich zwar verbreitet, aber immer weiter entfernt vom Ursprung. Der „tiefe Brunnen“, der einst das Wissen in seiner vollen Tiefe kannte, wird zur Metapher für die verloren gegangene Weisheit. Durch das Bild des Mannes, der „begriff es und verlor es dann“, wird die Vergänglichkeit menschlichen Verständnisses unterstrichen.

Die Wendung des Gedichts, dass „ein Kind sich in den Spiegel bückt“ und „entrückt“ wird, deutet darauf hin, dass wahres Wissen oder Verständnis nicht einfach nur in Worten zu finden ist, sondern in einer tieferen, vielleicht sogar unbewussten Erfahrung. Das Kind wird in die Welt des Wissens und der Liebe eingeführt, jedoch ohne zu wissen, was es genau ist. Diese Übergänge von Unwissenheit zu Erkenntnis und von Unbewusstheit zu Liebe verdeutlichen die vielschichtige Beziehung des Menschen zum Geheimnis der Welt.

Die letzten Zeilen des Gedichts zeigen die unaufhaltsame Entwicklung des Wissens und die damit verbundene Entfremdung. Der „Bettler“ tritt auf den Kies eines „Edelsteins Verlies“, was darauf hinweist, dass selbst in den einfachsten Dingen das verborgene Wissen zu finden ist, aber es bleibt unerreichbar, ein „Verlies“, das verschlossen bleibt. Das Gedicht endet mit einem „Traum“, der den Kreis schließt und das immerwährende Streben des Menschen nach dem tiefen Geheimnis, das er nie ganz begreifen kann, symbolisiert.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.