Widmung für Chopin
Drei Meere tanzen hochgeschürzt ans Land.
Des Droschkenkutschers Hut durchbohren Mondesstrahlen.
Als Kehrichtwalze holpert der Verstand,
Wir glänzen durch die Nacht gleich singenden Aalen.
Giraffenhals ragt schräg zum Nordlichthimmel.
Die Mondesratte knüpft ihm bleichen Kragen.
Am Tropenkoller würgt ein Polizistenlümmel.
Bald werden wir ein neues Land erfragen.
Aus unsrem Ohr lustwandeln Eiterströme.
Das Auge rankt sich wüst um das Monokel.
An einem Drahtseil leckt ein schlichter Böhme.
Ein Schwein steht segnend auf dem Marmorsockel.
Zehntausendfarbenschnee. Cocytus. Kinotempel.
Ein Mann greift weibernd nach dem Hosensack.
Auf Eselsrücken brennen handgroß Feuerstempel
Und Hähne machen Kopfsprung in den Chapeau claque.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Widmung für Chopin“ von Hugo Ball ist ein dadaistisches Meisterwerk, das sich durch eine radikale Zerstörung konventioneller Sprachmuster und eine surreale Bildsprache auszeichnet. Die Widmung an Chopin, einen Inbegriff der Romantik, erscheint dabei als ironischer Kontrast, der die Zerrissenheit und den Aufbruch der Dada-Bewegung widerspiegelt. Balls Intention ist es, die bürgerliche Ordnung und die etablierten Kunstformen zu untergraben und eine neue, anarchische Ästhetik zu etablieren.
Das Gedicht ist von einer Vielzahl bizarrer und scheinbar zusammenhangloser Bilder geprägt. Die „drei Meere“, die „hochgeschürzt ans Land“ tanzen, der „Kehrichtwalze“ Verstand und „singende Aale“ in der Nacht vermitteln ein Gefühl der Auflösung und des Chaos. Tiere, wie die „Mondesratte“ oder das „Schwein“, treten in ungewöhnlichen Kontexten auf, wodurch die menschliche Vernunft und Ordnung in Frage gestellt werden. Der zweite Teil des Gedichts verstärkt diesen Eindruck durch noch groteskere Bilder, wie den Polizisten, der am Tropenkoller erstickt, oder das Auge, das sich „wüst um das Monokel“ rankt.
Ball nutzt die Sprache als Mittel zur Destruktion und zur Schaffung einer neuen Realität. Die Sätze sind oft bruchstückhaft, die Syntax wird aufgelöst, und die Wörter werden von ihrer ursprünglichen Bedeutung entfremdet. Dies erzeugt einen rhythmischen und zugleich irritierenden Effekt, der den Leser dazu zwingt, sich der traditionellen Logik zu entledigen und sich auf die assoziative Kraft der Worte und Bilder einzulassen. Der „Zehntausendfarbenschnee“ und das „Cocytus“-Motiv, die in den letzten Strophen auftauchen, deuten auf eine apokalyptische Stimmung hin, die den Untergang einer alten Welt andeutet und den Weg für etwas Neues, noch Unbekanntes ebnet.
Insgesamt ist „Widmung für Chopin“ eine Manifestation des dadaistischen Geistes, der die etablierten Werte und Normen der Gesellschaft ablehnt und eine neue, subversive Kunstform sucht. Die scheinbare Sinnlosigkeit und der Bruch mit der Tradition sind dabei kein Selbstzweck, sondern ein Ausdruck des Protests gegen die Schrecken des Ersten Weltkriegs und ein Aufruf zur Freiheit und zum Neuanfang. Ball will mit diesem Gedicht nicht nur schockieren, sondern auch eine neue Form der Wahrnehmung eröffnen und den Leser dazu anregen, die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.