Waldgreis
Geh hundert Meilen die Buchen lang
Den grauviolettenen Stämmegang
Wo das Jahrtausend die Kronen treibt
Und mit den Nägeln sich Runen schreibt –
Geh hundert Meilen im teppichten Schoß
Durchs schwer überkuppelte, blührote Moos,
Wo nur als wunderlich Lied noch tönt,
Was deinem glänzenden Auge fröhnt. –
Da kommst du an einen gelichteten Raum,
Es steht eine Hütte da, sichtbar kaum,
So herzen sie Geißblatt und Winden weiß, –
An ihrem Pförtchen lehnt zwergig ein Greis.
Der schaut so gar traumhaft und schaut nur und schweigt,
Sein Blick dir bis tief in die Seele reicht,
Und müde wirst du, unendlich müd′,
Und das Wunderlied schwellt und webt und verzieht.
Und der Alte, er winkt. Gern folgst du ihm nach,
Draußen die Nacht überringt schon den Tag.
Blau irrt am Fensterchen flimmernder Schein,
Und du hörst Märchen vom Menschelein.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Waldgreis“ von Hugo Ball zeichnet das Bild einer mystischen Begegnung im Wald, die den Leser in eine Welt der Ruhe, des Staunens und schließlich der Wandlung entführt. Der Weg beginnt mit einer Reise durch einen alten, ehrwürdigen Wald, wo die Natur in ihrer ganzen Pracht und im Lauf der Zeit manifestiert wird. Die Beschreibungen der „grauviolettenen Stämme“ und des „schwer überkuppelten, blühroten Moos“ schaffen eine Atmosphäre der Tiefe und des Geheimnisses, die den Leser einlädt, sich von der Hektik der Welt zu lösen und in die Stille des Waldes einzutauchen.
Die Reise führt zu einer abgelegenen Hütte, die von der Natur umarmt wird, und zu einem alten Mann, dem „Greis“. Dieser Greis, ein Symbol der Weisheit und des Wissens, blickt den Reisenden tief in die Seele. Sein Schweigen und sein traumhafter Blick suggerieren eine Verbundenheit mit dem Unaussprechlichen und eine Fähigkeit, die Geheimnisse der Welt zu erfassen. Die Erschöpfung, die den Reisenden befällt, deutet auf eine tiefe Erschütterung durch die Begegnung mit dem Greis und eine Öffnung für die Welt der Träume und des Unbewussten hin.
Der Höhepunkt des Gedichts ist das Winkens des Greises, das den Reisenden in die Nacht und in das Innere der Hütte lockt. Dieser Schritt symbolisiert den Übergang in eine andere Realität, weg vom Tageslicht und in die Welt der Geschichten und des Wissens, die von dem Greis erzählt werden. Das „flimmernde“ Licht am Fenster und die „Märchen vom Menschelein“ deuten auf eine Erfahrung der Wandlung und der Vertrautheit hin, die das Eintauchen in eine verborgene Welt der Mythen und der menschlichen Existenz beinhaltet.
Ball nutzt in diesem Gedicht eine einfache, aber eindringliche Sprache, um eine Atmosphäre des Geheimnisses und des Staunens zu erzeugen. Die Wiederholungen und die bildhafte Sprache, wie „das Wunderlied schwellt und webt“, verstärken die hypnotische Wirkung des Gedichts und ziehen den Leser in seinen Bann. Der „Waldgreis“ ist somit eine Meditation über die Sehnsucht nach Weisheit, die Faszination des Unbekannten und die transformative Kraft der Begegnung mit dem Mysteriösen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.