Versiegle mir die Zunge, binde mich…
Versiegle mir die Zunge, binde mich
Und raube mir die letzte Gabe.
Verschütte meinen Wein, zerstreue mich,
Daß ich in Dir gelitten habe.
Oh, hülle mich in Nacht, Barmherziger,
Umstelle mich mit Deinen heiligen Bränden.
Laß mich als Opfer fallen immerdar,
Doch nur von Deinen priesterlichen Händen.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Versiegle mir die Zunge, binde mich…“ von Hugo Ball ist eine tiefgründige Bitte um Hingabe und Unterwerfung unter eine höhere Macht. Die ersten beiden Zeilen drücken den Wunsch nach absoluter Beschränkung und Entäußerung aus: „Versiegle mir die Zunge, binde mich / Und raube mir die letzte Gabe.“ Dies deutet auf eine Sehnsucht nach Stille und der Aufgabe jeglicher Eigeninitiative. Die „letzte Gabe“ könnte die Fähigkeit zur Selbstbestimmung oder zum Ausdruck der eigenen Individualität sein, die hier bewusst aufgegeben werden soll. Der Sprecher sucht eine Form der Leere, um sich ganz auf die empfangende Rolle konzentrieren zu können.
Die zweite Strophe erweitert diese Thematik, indem sie die totale Auflösung des Selbst in den Vordergrund stellt: „Verschütte meinen Wein, zerstreue mich, / Daß ich in Dir gelitten habe.“ Der „Wein“ symbolisiert hier vielleicht das Leben, die Freuden und das irdische Dasein, das aufgegeben werden soll. „Zerstreue mich“ ist ein starkes Bild der Zerstörung und Auflösung, die jedoch nicht als negativ empfunden wird, sondern als Voraussetzung für eine tiefere Verbindung. Der Wunsch, in der göttlichen Instanz gelitten zu haben, deutet auf eine spirituelle Erfahrung hin, in der Schmerz und Leiden als Mittel zur Läuterung und zur Annäherung an das Göttliche verstanden werden.
In der dritten und letzten Strophe wird die Bitte konkret an eine „Barmherzige“ Instanz gerichtet, die als Schutz und Geborgenheit dient. „Oh, hülle mich in Nacht, Barmherziger, / Umstelle mich mit Deinen heiligen Bränden.“ Die Nacht kann hier als Symbol für Geborgenheit und Schutz vor der Welt interpretiert werden, während die „heiligen Bränden“ eine intensive, vielleicht sogar schmerzhafte, aber letztlich reinigende Erfahrung darstellen. Der Sprecher möchte in dieser Erfahrung aufgehen. Das Finale, „Laß mich als Opfer fallen immerdar, / Doch nur von Deinen priesterlichen Händen,“ verstärkt den Gedanken der Hingabe und des Opfers. Die Bereitschaft, sich als Opfer darzubringen, unterstreicht die tiefe Sehnsucht nach einer absoluten Verbindung mit dem Göttlichen und die Akzeptanz des eigenen Untergangs als notwendiger Schritt zur Erleuchtung.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Gedicht von Hugo Ball eine tiefgreifende Suche nach spiritueller Erfüllung durch Hingabe, Unterwerfung und Selbstaufgabe darstellt. Es ist ein Aufruf zur vollständigen Auflösung des Ichs in einer göttlichen Macht, die sowohl Schmerz als auch Geborgenheit bietet. Die klaren Bilder und die eindringliche Sprache machen dieses Gedicht zu einem Zeugnis der menschlichen Sehnsucht nach Transzendenz und der Akzeptanz des eigenen Schicksals im Angesicht des Göttlichen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.