Narzissus
Ein helles Mädchen spitzt die Kniee, tanzend.
Narzissus sanft vibrierend küßt ihr blaues Haar.
Zwei gelbe Autos keuchen, fort sich pflanzend,
Und trollen dumpf, geschwächt, zu der Kasinobar.
Es lästern oft Kokotten und Chauffeure.
Doch vor der Taube beugen sie den Nacken tief.
Der Bauch des Universums schwillt aus einem Göhre,
Und Hahn und Pferd verdrehn die Hälse schief.
Es auch geschieht ein ungeheures Tun:
Maria hebt sich von dem Wolkensitze.
Die Zeppeline schreien, Dreatnougths fliehn.
Ein Grenadier feikt in die Opiumspritze.
Es bleibt kein Hund im Schoße der Madonnen.
Viel Senatoren, Patriarchen jappt das hohe Seil.
Auf Sacco-Ösen schrillen Querpfeif-Wonnen
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Narzissus“ von Hugo Ball ist ein rätselhaftes und stark von dadaistischen Elementen geprägtes Werk. Es entzieht sich einer einfachen Deutung, da es durch die Verwendung von unsinnigen, scheinbar zufällig aneinandergereihten Worten und Bildern bewusst die traditionellen Konventionen der Poesie untergräbt. Ball verwendet eine surrealistische Bildsprache, die den Betrachter in eine Welt entführt, in der die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen. Dies erzeugt eine Atmosphäre der Irritation und der Ablehnung von rationaler Logik, was typisch für die Dada-Bewegung ist, der Ball angehörte.
In der ersten Strophe scheint ein Fragment einer Szene aus der antiken Mythologie angedeutet zu werden: Narzissus, der sich in sein Spiegelbild verliebte, küsst ein Mädchen. Doch die Präsenz von „zwei gelben Autos“ und einer „Kasinobar“ deutet auf eine moderne, urbane Umgebung hin, die mit dem mythologischen Bezug kollidiert. Diese Gegenüberstellung von Antike und Moderne, von Mythos und Alltag, ist ein typisches Merkmal von Balls Schreibweise und dient dazu, die gewohnten Denkweisen zu unterbrechen und neue Perspektiven zu eröffnen. Die Verwendung von Verben wie „keuchen“ und „trollen“ für die Autos verleiht ihnen eine bizarre, fast menschliche Qualität und verstärkt den Eindruck des Absurden.
Die zweite und dritte Strophe weisen eine noch größere Abstraktion auf und verwenden eine Reihe von Bildern, die scheinbar keinen logischen Zusammenhang haben. „Kokotten und Chauffeure“ beugen sich „vor der Taube“, der „Bauch des Universums schwillt aus einem Göhre“. Das Erscheinen von Maria, „Zeppeline schreien“ und ein Grenadier, der sich eine „Opiumspritze“ setzt, erzeugt eine surreale Collage, die die Grenzen der Realität sprengt. Ball spielt mit religiösen, militärischen und technologischen Elementen, um eine Welt darzustellen, die von Chaos und Zerstörung geprägt ist, eine Welt, die durch den Ersten Weltkrieg und die damit einhergehende gesellschaftliche Zerrüttung geprägt war.
In der letzten Strophe verfestigt sich der Eindruck des Zerfalls und der Sinnlosigkeit. „Kein Hund“ verbleibt in den „Madonnen“, Senatoren und Patriarchen werden durch das „hohe Seil“ angezogen. Die Verwendung von „Sacco-Ösen“ und „Querpfeif-Wonnen“ verstärkt das Gefühl der Irritation und der Auflösung traditioneller Werte. Balls Gedicht ist somit nicht nur eine Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Werten, sondern auch ein Ausdruck der Verzweiflung und des Nihilismus, der in den Kriegsjahren vorherrschte. Das Gedicht fordert den Leser heraus, sich von konventionellen Denkmustern zu befreien und sich auf die Unmittelbarkeit der sprachlichen Bilder und deren emotionale Wirkung einzulassen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.