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Der Verzückte

Von

Und manchmal überfällt mich eine tolle Seligkeit.
Alle Dinge tragen den Orchideenmantel der Herrlichkeit.
Alle Gesichte tragen an goldenen Stäben zur Schau ihr innerstes Wesen.
Die Inschriften der Natur fangen zu stammeln an, leicht zu lesen.

Alle Wunder drängen wie Seesterne an die Oberfläche.
Die Golfströme der Luft kreisen und schweben wie diamantene Bäche.
Aus jedem toten Gerät wollen sich hundert staunende Augen erheben.
In jedem Stein überschlägt sich wild eifersüchtiges Leben.

Die Kirchtürme flammende Gottesschwerter. Dröhnend schlagen die Stunden.
Meine Zunge eine Jerichorose. Duft strömt und Musik mir vom Munde.
Auf meine Fingerspitzen, die sich in Beschwörungen ducken,
Lassen sich alle verirrten Küsse nieder, die durch das Weltall zucken.

Daher begibt es sich, daß über den fliegenden Dächern der Stadt,
Die mich beherbergt, der leuchtende Mond seinen Bogen hat
Wie aus Opal geschnitten ein weitgespannter Viadukt,
Und daß nicht mehr Wirklichkeit ist, was da spukt.

Es sind geisterhafte Orchester auf der Wanderung zu vernehmen.
Es ist, als ob unterm Pflaster Höllen aus Licht heraufgeschwommen kämen.
Die Menschen, die da gehen, schreiten an elfenbeinernen Stöcken.
Die Häuser, die da stehen, prunken in Purpurmänteln und Galaröcken.

Die Bilder und die Gesichte kommen hervor wie trunkene Tropenfalter,
Wenn du in roten Nächten durch die Glutgärten Ceylons gehst.
An Ärmel und Kniee hangen sich ihrer so viele und schwer,
Daß du ermattet zuletzt, ganz wirr und taumelnd im blühenden Gifte stehst.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Der Verzückte von Hugo Ball

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Verzückte“ von Hugo Ball beschreibt einen Zustand intensiver Ekstase und Verklärung, in dem die Grenzen zwischen Realität und Vision verschwimmen. Die Worte des Gedichts erwecken den Eindruck einer tiefgreifenden Erfahrung, bei der sich die Wahrnehmung des lyrischen Ichs radikal verändert. Die Welt um ihn herum wird von einer Atmosphäre der Schönheit, des Wunders und der Überfülle erfüllt.

Die ersten Strophen sind von einer überbordenden Freude geprägt. Ball nutzt eine reiche Bildsprache, um die Wahrnehmung der Welt zu verändern. „Orchideenmantel der Herrlichkeit“, „goldene Stäbe“, „diamantene Bäche“ und „flammende Gottesschwerter“ sind Beispiele für die luxuriösen und erhabenen Bilder, die die Welt des Ichs verwandeln. Die Natur „stammelt“ lesbare Inschriften, die „Seesterne“ drängen an die Oberfläche und das Leben überschlägt sich in den Steinen. Die Zeit, die durch die Kirchtürme und die „dröhnenden Stunden“ symbolisiert wird, scheint in dieser Erfahrung keine Relevanz mehr zu haben, und das lyrische Ich fühlt sich in seiner „Jerichorose“ mit dem Duft und der Musik aus seinem Mund verbunden.

In der zweiten Hälfte des Gedichts kippt die Atmosphäre in etwas Unheimlicheres. Der Mond, der „wie aus Opal geschnitten“ über den Dächern der Stadt steht, verstärkt die surreale und fast traumhafte Qualität der Umgebung. „Geisterhafte Orchester“ sind zu hören und „Höllen aus Licht“ scheinen aus dem Untergrund emporzusteigen. Die Menschen werden zu Geistern, die „an elfenbeinernen Stöcken“ schreiten, und die Häuser erscheinen in prächtigen Gewändern. Diese Verschiebung deutet auf eine Intensivierung der Erfahrung, bei der die Grenzen zwischen Sein und Schein, Realität und Fantasie endgültig aufgehoben werden.

Das Gedicht endet mit einem Bild des Überflusses und der Erschöpfung. Die „trunkenen Tropenfalter“ ziehen das lyrische Ich in ihren Bann und scheinen es zu überwältigen. Die „roten Nächte“ und die „Glutgärten Ceylons“ erzeugen ein Gefühl von Hitze, Ekstase und Gefahr. Am Ende steht das Ich „ganz wirr und taumelnd im blühenden Gifte“. Dies deutet darauf hin, dass der Zustand der Verzückung zwar von unglaublicher Schönheit geprägt ist, aber auch eine potenzielle zerstörerische Kraft in sich birgt. Die Welt ist berauschend, aber auch gefährlich.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.