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Unruhe der Nacht

Von

Unruhe der Nacht
Nun bin ich untreu worden
Der Sonn′ und ihrem Schein;
Die Nacht, die Nacht soll Dame
Nun meines Herzens sein!

Sie ist von düstrer Schönheit,
Hat bleiches Nornengesicht,
Und eine Sternenkrone
Ihr dunkles Haupt umflicht.

Heut ist sie so beklommen,
Unruhig und voller Pein;
Sie denkt wohl an ihre Jugend –
Das muss ein Gedächtnis sein!

Es weht durch alle Täler
Ein Stöhnen, so klagend und bang;
Wie Tränenbäche fliessen
Die Quellen vom Bergeshang.

Die schwarzen Fichten sausen
Und wiegen sich her und hin,
Und über die wilde Heide
Verlorene Lichter fliehn.

Dem Himmel bringt ein Ständchen
Das dumpf aufrauschende Meer,
Und über mir zieht ein Gewitter
Mit klingendem Spiele daher.

Es will vielleicht betäuben
Die Nacht den uralten Schmerz?
Und an noch ältere Sünden
Denkt wohl ihr reuiges Herz?

Ich möchte mit ihr plaudern,
Wie man mit dem Liebchen spricht –
Umsonst, in ihrem Grame
Sie sieht und hört mich nicht!

Ich möchte sie gern befragen
Und werde doch immer gestört,
Ob sie vor meiner Geburt schon
Wo meinen Namen gehört?

Sie ist eine alte Sibylle
Und kennt sich selber kaum;
Sie und der Tod und wir alle
Sind Träume von einem Traum.

Ich will mich schlafen legen,
Der Morgenwind schon zieht –
Ihr Trauerweiden am Kirchhof,
Summt mir mein Schlummerlied!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Unruhe der Nacht von Gottfried Keller

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Unruhe der Nacht“ von Gottfried Keller ist eine tiefgründige Reflexion über die Nacht als Metapher für Melancholie, Vergänglichkeit und das Unbewusste. Der Sprecher wendet sich von der Sonne und dem Tag ab und wählt die Nacht als „Dame seines Herzens“. Diese Entscheidung ist eine Abkehr von der Helligkeit und Klarheit des Tages hin zur Dunkelheit und dem Rätselhaften der Nacht.

Die Personifizierung der Nacht, die als „von düstrer Schönheit“ und mit einem „Nornengesicht“ beschrieben wird, verleiht dem Gedicht eine mystische Qualität. Die Nacht wird hier als uralte, weise Figur dargestellt, die von Kummer und Vergangenheit geplagt wird. Die Beschreibung der Naturphänomene wie das Stöhnen in den Tälern, die fließenden Quellen und die sausenden Fichten verstärkt die Atmosphäre der Unruhe und des Schmerzes, die der Nacht innewohnt. Diese Naturbilder spiegeln die innere Gefühlswelt des Sprechers und der Nacht wider, wodurch eine tiefe Verbundenheit zwischen Mensch und Natur hergestellt wird.

Der Sprecher versucht, eine Beziehung zur Nacht aufzubauen, möchte mit ihr plaudern und sie befragen. Doch seine Versuche scheitern, da die Nacht in ihrer Trauer gefangen ist und ihn nicht wahrnimmt. Die Nacht wird als eine „alte Sibylle“ beschrieben, die ihr eigenes Wesen kaum kennt. Diese Aussage deutet auf die Unfassbarkeit und Komplexität des Unbewussten hin, das sowohl dem Sprecher als auch der Nacht innewohnt. Die letzte Strophe, in der der Sprecher sich dem Schlaf zuwendet und die Trauerweiden am Kirchhof um ein Schlummerlied bittet, symbolisiert die Akzeptanz der Vergänglichkeit und den Übergang in den Traumzustand.

Das Gedicht ist somit eine Betrachtung des menschlichen Zustands, der Melancholie, der Suche nach Sinn und der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Der Sprecher findet Trost in der Dunkelheit und Unruhe der Nacht, da er in ihr eine Spiegelung seiner eigenen inneren Welt erkennt. Die Nacht wird zum Spiegelbild der menschlichen Seele, die von Erinnerungen, Schmerz und der Suche nach Wahrheit geprägt ist. Durch die Poesie Kellers wird die Nacht zu einem Ort der Kontemplation, der Reflexion und des Eintauchens in die Tiefen des menschlichen Bewusstseins.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.