Linde
Ich schritt vorbei an manchem Baum
Im Spiel der Morgenwinde,
Ich schwankte hin in wachem Traum
Und sah nicht, wie der Blinde.
Doch plötzlich fuhr ich auf im Traum
Und rief: »O Gott, wie linde!«
Ich fand mich unterm Lindenbaum,
Er hauchte Duft im Winde.
Ich aber sprach: »Du süßer Baum,
Dich grüßt wohl auch der Blinde,
Der deinen Namen selbst im Traum
Noch nie gehört, als Linde.«
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Linde“ von Friedrich Hebbel beschreibt eine innere Wandlung und das plötzliche Erwachen des lyrischen Ichs für die Schönheit und den Duft der Natur. Die ersten vier Verse schildern einen Zustand der Unaufmerksamkeit und des Träumens. Das Ich wandert unachtsam an Bäumen vorbei, in einem „Spiel der Morgenwinde“, wie ein Blinder, der die Welt um sich herum nicht wahrnimmt. Diese einleitende Phase deutet auf eine gewisse Abwesenheit oder ein Versunkensein in eigene Gedanken hin, sodass die unmittelbare Umgebung nicht wirklich registriert wird.
Der zweite Teil des Gedichts markiert einen entscheidenden Wendepunkt. Das lyrische Ich „fuhr auf im Traum“ und erkannte plötzlich die Sanftheit und den Wohlgeruch der Linde. Der Ausruf „O Gott, wie linde!“ zeugt von einer tiefen Ergriffenheit und Überraschung, als ob das Ich aus seiner bisherigen Unaufmerksamkeit erwacht wäre. Diese Erfahrung wird durch das „wache“ Träumen verdeutlicht, in dem die Sinne plötzlich geschärft werden. Die Entdeckung des Lindenbaums, der „Duft im Winde hauchte“, wird zu einem Moment des Erwachens und der Erkenntnis.
Im letzten Teil wendet sich das Ich direkt an den Lindenbaum. Durch die Ansprache „Du süßer Baum“ wird die Wertschätzung für die Linde ausgedrückt. Die Frage, ob auch ein Blinder die Linde grüßen kann, deutet auf die universelle Schönheit des Baumes hin, die unabhängig von der Fähigkeit zur Wahrnehmung ist. Das Ich reflektiert die vorherige Phase der Unachtsamkeit, in der es selbst im Traum den Namen „Linde“ nicht kannte.
Insgesamt ist das Gedicht eine Ode an die Natur und die Fähigkeit, Schönheit und Harmonie zu erkennen, auch wenn diese zunächst verborgen scheinen. Es unterstreicht die Bedeutung der Achtsamkeit und des bewussten Erlebens der Umwelt. Die Linde wird hier zum Symbol für das Schöne und Sanfte, das sowohl die Sinne als auch die Seele berührt. Durch die Metapher des „Blinden“ wird die Notwendigkeit des bewussten Sehens und Fühlens betont.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.