Herbstgefühl
Grünen, Blühen, Duften, Glänzen,
Reichstes Leben ohne Grenzen,
Alles steigernd, nirgends stockend.
Selbst die kühnsten Wünsche lockend:
Ja, da kann ich wohl zerfließen,
Aber nimmermehr genießen;
Solche Flügel tragen weiter
Als zur nächsten Kirschbaum-Leiter.
Doch, wenn rot die Blätter fallen,
Kühl die Nebelhauche wallen,
Leis durchschauernd, nicht erfrischend,
In den warmen Wind sich mischend:
Dann vom Endlos-Ungeheuren
Flücht′ ich gern zum Menschlich-Teuren,
Und in einer ersten Traube
Sieht die Frucht der Welt mein Glaube.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Herbstgefühl“ von Friedrich Hebbel offenbart einen tiefgründigen Kontrast zwischen der überwältigenden Pracht des Sommers und der besinnlichen Melancholie des Herbstes. Der Dichter verwendet gekonnt Bilder und Metaphern, um die flüchtige Natur der Freude und die Sehnsucht nach einer tieferen, greifbareren Erfahrung zu thematisieren. Im ersten Teil des Gedichts, der durch die Fülle des Sommers geprägt ist, wird das grenzenlose Leben in seiner ganzen Pracht dargestellt.
Die ersten acht Zeilen beschreiben eine Welt des „Grünen, Blühen, Duften, Glänzen“, in der das Leben „ohne Grenzen“ scheint. Doch trotz dieser Fülle und der Fähigkeit, selbst die „kühnsten Wünsche“ zu befriedigen, findet der Dichter hier keine Erfüllung. Er kann „zerfließen“, sich in dieser Überfülle auflösen, aber nicht „genießen“. Die „Flügel“ des Sommers tragen ihn weiter, aber nicht tief genug, um eine dauerhafte Verbindung zu schaffen. Hier wird bereits eine subtile Kritik an der Oberflächlichkeit und der flüchtigen Natur des reinen Genusses angedeutet.
Der zweite Teil des Gedichts, ab der Zeile „Doch, wenn rot die Blätter fallen“, schlägt einen völlig anderen Ton an. Der Herbst wird mit kühlen Nebelhauchen und einer leis schauernden Brise beschrieben, die eine Atmosphäre der Melancholie und des Rückzugs schafft. Hier, in dieser Phase des Verfalls, findet der Dichter Trost. Er flieht „vom Endlos-Ungeheuren“ – der überwältigenden Weite und dem unaufhaltsamen Kreislauf des Lebens – „zum Menschlich-Teuren“. In der „ersten Traube“ erblickt er die „Frucht der Welt“ – ein Symbol für Reife, Vollendung und die greifbare Essenz des Lebens.
Hebbel verdeutlicht in diesem Gedicht die menschliche Sehnsucht nach etwas Bleibendem inmitten des Vergänglichen. Der Sommer, mit seiner grenzenlosen Fülle, symbolisiert die oberflächliche Freude und das unersättliche Verlangen. Der Herbst, mit seiner Melancholie, verkörpert die tieferen menschlichen Bedürfnisse nach Geborgenheit, nach Sinn und nach einer Verbindung mit dem Wesentlichen. Die „erste Traube“ wird zum Symbol für die Hoffnung und den Glauben an eine greifbare, verständliche Welt, in der Erfüllung gefunden werden kann. Das Gedicht ist somit eine Reflexion über die Widersprüchlichkeit des menschlichen Daseins, die zwischen Überschwang und Melancholie, zwischen Sehnsucht und Erfüllung oszilliert.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.