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Geburtsnacht-Traum

Von

Ich durfte über Nacht im Traum
Ein seltsam Fest begehen,
Ich habe meine Väter all
Um mich vereint gesehen.

Mein Vater führte stumm den Zug,
Er lächelte hinüber,
Dann aber wandte er sich ab,
Ihm ward das Auge trüber.

Es war der letzte, welcher starb,
Noch hatt′ er all die Milde;
Der Himmel hatte nichts verschönt
An seinem teuren Bilde.

Großvater nahte nun heran,
Der mich zu wiegen pflegte,
Eh′, wie er mich, ihn selbst der Tod
Ins stille Bette legte.

Ich habe ihn sogleich erkannt,
Als hätte, wie die Nische
Den Heiligen, mein Herz sein Bild
Bewahrt in voller Frische.

Sein Auge weilte, wie erstaunt,
Auf mir und schien zu fragen:
Bist du dasselbe kleine Kind,
Das einst mein Arm getragen?

Großmutter auch, sie nahte sich,
Die mildeste der Frauen;
Auf meinen Vater schien sie bald
Und bald auf mich zu schauen.

Und als sie fand, daß ich ihm glich,
Ging in den bleichen Zügen,
Als wär′s ein neues Leben, auf
Das innigste Vergnügen.

Nun trat ein ernster Mann herzu,
Den ich nicht mehr erkannte,
Doch sah ich, daß er freundlich sich
Zu meinem Vater wandte.

Und immer größer ward die Schar
Von Männern, welche kamen,
Und stets durchzuckte mir′s die Brust:
Du bist von ihrem Samen!

Auch zarte Frauen nahten viel
In Trachten, fremd und eigen;
Ein schlummerndes Jahrhundert schien
Mit jeder aufzusteigen.

Die sanften Augen waren all
So süß auf mich geheftet,
Doch war der lächelnd holde Mund
Zur Rede zu entkräftet.

Vom Turme schlug es, dumpf und bang,
Sie schieden mit Getümmel;
Die Männer deuteten aufs Grab,
Die Frauen auf den Himmel.

Das war die Stund′, die mich gebar;
Nun frag′ ich mich mit Beben:
Ob sich das Leben und der Tod
Im Grabe noch verweben?

Ob, die sich regt in meiner Brust,
Die ungestüme Flamme,
Die Toten noch im Schlummer stört,
Aus deren Blut ich stamme?

Ob sie mir blaß zur Seite gehn,
Unmächtig, zu erscheinen,
Und lächeln, wenn ich glücklich bin,
Und wenn ich′s nicht bin, weinen?

Und ob ich selbst dereinst mein Kind,
Statt ruhig auszuschlafen,
Durch Nacht und Sturm begleiten muß
Bis an den letzten Hafen?

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Geburtsnacht-Traum von Friedrich Hebbel

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Geburtsnacht-Traum“ von Friedrich Hebbel ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der menschlichen Existenz, der Vergangenheit und dem Kreislauf von Leben und Tod, eingebettet in einen Traum. Die Erfahrung der nächtlichen Vision ermöglicht dem Sprecher die Konfrontation mit seinen Vorfahren, wodurch die Bedeutung von Herkunft und Nachfolge in den Fokus gerückt wird. Das Gedicht ist geprägt von einer melancholischen Atmosphäre und einer eindringlichen Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen.

Der Traum des Sprechers beginnt mit der Vision seiner Ahnen, angefangen mit dem Vater, dessen „Auge trüber“ wird, als er sich abwendet. Diese kurze Beobachtung deutet auf eine Trennung oder ein Unbehagen, eine Ahnung von Verlust, hin. Die weiteren Begegnungen mit dem Großvater, der Großmutter und schließlich einer immer größer werdenden Schar von Vorfahren, lassen das Bewusstsein des Sprechers für seine Abstammung wachsen. Besonders die Begegnung mit der Großmutter, deren Blick zwischen dem Vater und dem Sprecher hin und her schwankt, unterstreicht die Verknüpfung von Generationen. Der Traum wird zu einer Erkundung der familiären Identität, in der die Vergangenheit auf die Gegenwart projiziert wird.

Die zweite Hälfte des Gedichts ist durch die Einführung existenzieller Fragen geprägt. Der Traum wird nachdenklich und verunsichert den Sprecher. Die Frage nach dem Fortbestand des Lebens nach dem Tod, ob sich „das Leben und der Tod“ im Grab „noch verweben“, zeugt von einer tiefen Unsicherheit. Die „ungestüme Flamme“ in der Brust des Sprechers, die ihn ausmacht, wird in Verbindung mit den Toten gebracht, was die Frage aufwirft, ob das eigene Leben die Toten beeinflusst oder gar stört. Dieses Motiv von Leben und Tod, von Erinnerung und dem Einfluss der Ahnen, ist das zentrale Thema des Gedichts.

Hebbel nutzt in diesem Gedicht eine eindringliche Bildsprache. Die „zarten Frauen“, die „Trachten, fremd und eigen“ tragen, und das „schlummernde Jahrhundert“, das mit ihnen aufzusteigen scheint, erzeugen eine Atmosphäre der Ehrfurcht und des Geheimnisses. Das „dumpf und bang“ schlagende Turmuhr, die das Ende des Traums ankündigt, verstärkt die Beklemmung. Die rätselhafte Trennung der Ahnen in „Männer“ (die auf das Grab deuten) und „Frauen“ (die auf den Himmel deuten) unterstreicht die dualistische Natur des Lebens und des Todes.

Abschließend lässt der „Geburtsnacht-Traum“ den Leser mit einem Gefühl der Ungewissheit und der Ehrfurcht vor dem Leben zurück. Die abschließenden Fragen, die der Sprecher an sich selbst richtet, lassen das Gedicht offen für Interpretationen und regen zum Nachdenken über die eigene Existenz und die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart an. Die Vorstellung, dass die Toten den Lebenden begleiten und Anteil an ihrem Glück und Leid haben, verleiht dem Gedicht eine besondere Tiefe und eine starke emotionale Resonanz.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.