Thema: Abstrakt

Abstrakt – Themenbild

Das lyrische Thema „Abstrakt“ umfasst Dichtungen, die sich von gegenständlicher Darstellung und direkter Bedeutung lösen. Stattdessen konzentrieren sie sich auf formale Elemente, Klang, Rhythmus und die freie Assoziation von Ideen. Es geht um die Darstellung von Empfindungen, Stimmungen oder Ideen, die nicht unbedingt eine klare, rationale Entsprechung in der Realität haben müssen.

Typische Motive und Symbole in abstrakter Lyrik sind oft nicht eindeutig oder fest definiert. Farben, Formen, Klänge oder einzelne Worte können als Symbole fungieren, deren Bedeutung jedoch im Kontext des jeweiligen Gedichts und der individuellen Interpretation des Lesers entsteht. Es können auch mathematische oder wissenschaftliche Konzepte aufgegriffen werden, jedoch nicht, um diese zu erklären, sondern um durch ihre abstrakte Natur neue Bedeutungsebenen zu eröffnen.

Die Stimmungen und Emotionen, die in abstrakter Lyrik hervorgerufen werden, sind vielfältig und oft subjektiv. Sie können von tiefer Melancholie und innerer Zerrissenheit bis hin zu Euphorie, Ekstase oder einem Gefühl des Staunens reichen. Da die Sprache nicht primär der Beschreibung dient, sondern vielmehr als Ausdrucksmittel eingesetzt wird, können die Emotionen oft subtiler und vielschichtiger sein als in traditionelleren Gedichten.

Abstrakte Tendenzen finden sich in verschiedenen Epochen und Stilrichtungen der Dichtung. Vorläufer lassen sich bereits im Symbolismus finden, der den Klang und die Form der Sprache über ihren konkreten Inhalt stellte. Im 20. Jahrhundert erlebte die abstrakte Lyrik einen Aufschwung, insbesondere im Expressionismus, Dadaismus und Surrealismus. Auch die Konkrete Poesie, die die Sprache selbst zum Gegenstand des Gedichts macht, kann als eine Form der abstrakten Lyrik betrachtet werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich die Lyrische Abstraktion als eine Strömung in der Malerei, die auch die Lyrik beeinflusste.

Beim Lesen abstrakter Lyrik ist es wichtig, sich von der Erwartung einer klaren, rationalen Bedeutung zu lösen. Stattdessen sollte man sich auf die sinnlichen Qualitäten der Sprache konzentrieren: den Klang, den Rhythmus, die Bilder, die durch die Worte hervorgerufen werden. Es geht darum, die Emotionen und Stimmungen, die das Gedicht transportiert, auf sich wirken zu lassen und eigene Assoziationen zu entwickeln.

Ein offener, assoziativer Umgang mit der Sprache ist essentiell. Man sollte bereit sein, auch scheinbar sinnlose Wortkombinationen oder ungewöhnliche Satzstrukturen als Ausdrucksmittel zu akzeptieren und ihren möglichen Bedeutungsgehalt zu erkunden. Die Interpretation abstrakter Lyrik ist oft ein sehr individueller Prozess, bei dem es keine „richtige“ oder „falsche“ Antwort gibt.

Bekannte Autoren, die sich mit abstrakten Elementen in ihren Gedichten auseinandergesetzt haben, sind beispielsweise Christian Morgenstern, Hugo Ball, Kurt Schwitters und Gertrude Stein. Auch Wassily Kandinsky, der als einer der Väter der abstrakten Kunst gilt, hat mit lyrischen Texten experimentiert.

Indem man sich auf die formalen und klanglichen Aspekte der Sprache einlässt und die subjektiven Emotionen und Assoziationen zulässt, die das Gedicht hervorruft, kann man in die Welt der abstrakten Lyrik eintauchen und eine neue, intensive Erfahrung von Dichtung gewinnen.


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