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Zweites Bruchstück

Von

Einst führte mich in einem Traum der Geist
Zum Tiber: mondhell stieg das Kaisergrab
Gleich einem Schreckensbild der Unterwelt,
Am stillen Ufer riesenhaft empor:
Und schweigend wandelt′ ich die Brücke hin,
Mit jedem Schritt wuchs meiner Seele Grau′n –
Noch zittert mir das scheue Herz – jemehr
Ich mich dem Mittelpunkt der Christenheit,
Der Erde größtem Tempel näherte.

Und sieh, umfangen vom Gigantenarm
Der Säulenhallen öffnet sich der Platz,
Und wie von Innen zweifelhaft erhellt,
Erhebt der stolze Bau sich in die Luft,
Und über ihm, von Sternen hold umglänzt,
Der dunkeln Kuppel ungeheures Rund.
Und lange Züge, wie von Geistern sieht
Mein zitternd Auge schweben hin und her,
In Leichenkleidern zieht′s die Halle durch
Und über Treppen weg, und immer wogt′s
Von nebligen Gestalten aus der Nacht
Des Portikus, in weiten Kreisen tanzt′s
Um Obelisk und Wassersäule selbst.
Dem Sterblichen entsinkt das Herz: doch führt
Der Geist ihn unaufhaltsam fort, er steigt
St. Peters Treppen halbentseelt empor,
Und ganze Heere sieht er bleich und still
Von Grabbewohnern wimmeln auf und ab.

Da hält ihn eine mächtige Gestalt:
Nicht aus der Gruft, vom heiteren Olymp
Scheint sie zu kommen, so erhaben steht,
So göttlich schön die Hehre vor ihm da;
So wie′s der Vorwelt schöpferische Kunst
Gebildet aus des Marmors reinem Schnee,
So glänzet sie von ernster Majestät.
Ein weiß Gewand umfließt den hohen Wuchs,
Ein Lorbeerkranz umflicht das reiche Haar,
Doch von des Angesichtes Herrlichkeit
Geblendet sieht er sich der Augen Licht.
Ich bin die Muse, spricht sie, näh′re dich!
Nicht die jedoch, von der die feile Schaar
Der heut′gen Tage sich begeistert dünkt,
Ich bin die Muse, die dem Sänger einst
Der Helden Lob, der Götter Feierlied,
Des Schicksals unerklärbar Werk gelehrt.
Ich öffne dir die Augen, bebe nicht!
Ich schütze dich! Ertrage das Gesicht!
Tritt ein!
Und von gewalt′gem Schlag erklingt
Die heil′ge Pforte, die nur viermal sich
Eröffnet im Jahrhundert, und von Schreck
Ergriffen tret′ ich in den Tempel ein.
Doch ach! erfaßt′ ich des Gesichtes Grau′n
In Worten, konnt′ ich′s, dem Verschiednen gleich,
Der aus dem Grabe kehrt, und des Gerichts
Entsetzliches Geheimniß euch enthüllt?
In langer Doppelreihe sitzen sie,
Sie alle, die auf Petri Thron geherrscht,
Im ird′schen Glanz des Purpurs und des Golds,
Geschmückt mit ihren Kronen strahlenvoll
Hinab, bis wo auf des Apostels Grab
Zur Sternenwelt der Kuppel festlichhell
Des Hauptaltars metallne Säule ragt.
Und kühner schon – zu meiner Seite stand
Mir die Begleiterin – schaut′ ich die Reih′n
Der goldgekrönten grauen Häupter weg,
Und viele kannt′ ich, deren Thaten noch
Mit Staunen, Ehrfurcht, oder Fluch und Schmach
Aus ferner Vorzeit die Geschichte nennt.
Sie alle sitzen stumm in ihrem Gold.
Doch am Altar, in holder Einfalt steht
Voll Milde, Liebe, Demuth und Geduld
Der Herr in seiner Schönheit, Brod und Wein,
Die heil′gen Zeichen seines Opfertods,
Verwaltend mit beseligender Hand.
Anbetend sink′ ich nieder, da erschallt
So furchtbar donnernd durch den Tempel hin
Aus Höh′ und Tief′ ein grauenvoller Laut,
So grunderschütternd, daß der ganze Bau
Erbebt, der Bögen Marmorlast erdröhnt,
Die Heil′genbilder niederstürzen, selbst
Der Kuppel Wölbung überm Altar schwankt;
Da sinken die gekrönten Häupter all′
Wie Nichts zur Erde, schnell verschwunden ist
Ihr Leib, leer liegt das purpurne Gewand,
Der Krone Schmuck, ein flücht′ger Erdentand,
Und da und dort, mit Schaudern seh′ ich es,
Entwinden sich dem fürstlichen Talar
Schreckvolle Schlangen, Drachen rollen sich
Und das Gezücht der Hölle blutig auf.
Doch unerschüttert am Altare steht
In seiner Herrlichkeit der Herr, es graut
Die schwarze Nacht des Grabes überall,
Und nur den Herrn umstrahlt ein süßes Licht,
So rein und mild, wie seiner Lehre Geist.
Der Donner schweigt, ein sanfter Rosenschein
Klärt dämmernd schon der Kuppel Wölbung auf.
Und himmlische Gesänge klingen fern
Aus ihrem Duft herab; es blickt der Herr
Nach Oben, und verschwindet meinem Blick.
Doch Alles schweigt, und eine Stimme spricht,
Wie Gottes Stimme schallt′s den Tempel hin:
Ich bin der Einz′ge, bin der Ewige!

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Gedicht: Zweites Bruchstück von Wilhelm Friedrich Waiblinger

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Zweites Bruchstück“ von Wilhelm Friedrich Waiblinger ist eine allegorische Vision, die in einem Traum des lyrischen Ichs stattfindet und von einer Reise durch die christliche Welt, insbesondere durch den Petersdom in Rom, handelt. Es ist eine komplexe und vielschichtige Komposition, die eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit Macht, Vergänglichkeit und dem wahren Wesen der Spiritualität darstellt. Der Traum fungiert als Rahmen, der dem Dichter ermöglicht, seine Eindrücke und Reflexionen über die Institution der Kirche und deren Beziehung zum Ewigen zu präsentieren.

Das Gedicht beginnt mit einer düsteren Szenerie: Das lyrische Ich wird von einem Geist in einem Traum zum Tiber geführt, wobei das Kaisergrab und der Petersdom als Orte des Grauens dargestellt werden. Der anfängliche Schrecken und das Zittern des Herzens des Sprechers spiegeln die Ambivalenz wider, mit der der Dichter der Kirche und ihren weltlichen Manifestationen begegnet. Die beschriebene Architektur des Petersdoms, insbesondere die Kuppel, wird als gigantisch und geheimnisvoll dargestellt, was die Ehrfurcht des Sprechers vor der Größe des Ortes, aber auch seine innere Zerrissenheit verdeutlicht. Die Vision einer Prozession von Geistern innerhalb des Doms verstärkt die beklemmende Atmosphäre und deutet auf eine Welt zwischen Leben und Tod hin.

Ein entscheidender Wendepunkt ist die Begegnung mit der Muse, die als Verkörperung der Dichtkunst und des Wissens erscheint. Sie bietet dem Sprecher Schutz und Führung, was signalisiert, dass die folgende Vision eine Offenbarung ist. Die Muse führt den Dichter in den Dom ein, wo er Zeuge eines bemerkenswerten Ereignisses wird: einer Konfrontation zwischen weltlicher Macht und spiritueller Reinheit. Die Darstellung der Päpste in ihrem Prunk und ihrer Macht steht im Kontrast zur bescheidenen Gestalt Christi am Altar.

Der Höhepunkt des Gedichts ist die dramatische Enthüllung der Vergänglichkeit weltlicher Macht. Ein furchtbarer Donnerhall durchdringt den Tempel, die gekrönten Häupter der Päpste fallen in sich zusammen, und an ihrer Stelle erscheinen Schlangen und Drachen, Symbole des Bösen und der Hölle. Diese Szene unterstreicht die Überzeugung des Dichters von der Nichtigkeit des irdischen Reichtums und der weltlichen Macht im Angesicht der ewigen Wahrheit. Nur Christus, der Herr, bleibt unerschütterlich und umstrahlt von einem sanften Licht, das die Reinheit seiner Lehre verkörpert.

Das Gedicht endet mit einer Vision der Verklärung, in der Christus in den Himmel aufsteigt und die Stimme Gottes ertönt: „Ich bin der Einz’ge, bin der Ewige!“. Diese abschließende Botschaft verstärkt das zentrale Thema des Gedichts, nämlich die ewige und unveränderliche Natur des Göttlichen im Gegensatz zur Vergänglichkeit der weltlichen Macht. Waiblinger kritisiert durch seine Vision die weltliche Macht der Kirche, während er die Reinheit und die Lehre Christi hervorhebt. Das Gedicht ist somit eine tiefgreifende Reflexion über die Beziehung zwischen irdischem Schein und spiritueller Wahrheit.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.