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Zweite Silbe

Von

Im Zimmer bin ich comfortable
Und häufig nur ein einzig Blatt;
Im Land der Gluten und der Nebel
Ist wohl kein Haus, das mich nicht hat.

Befriedigend ist meine Größe
Und niedlich meine Kleinigkeit,
Man deckt oft meine schöne Blöße
Mit einem noch viel schönern Kleid.

Oft fürcht′ ich unter Last zu brechen,
Oft bin ich leider völlig leer,
Oft bin ich ausgewählt zum Zechen,
Oft von zu vielem Gelde schwer.

Mein Reich hat viele Untertanen,
Mich sucht die Faulheit und der Fleiß,
Die wandeln still um meine Bahnen,
Die ich zu interessieren weiß.

Heut wagt′ ich leise herzuschleichen
Und folgte still der Ersten nach.
Das Ganze scheint mir zwar zu gleichen,
Doch ist es freilich mir zur Schmach.

Nur um in deiner Näh′ zu weilen
Verstand ich mich zu dem Verein.
Wir wollen uns auch gleich zerteilen,
Wenn wir, geteilt, dich mehr erfreu′n.

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Gedicht: Zweite Silbe von Marianne von Willemer

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Zweite Silbe“ von Marianne von Willemer präsentiert ein raffiniertes Wortspiel, das sich um die doppeldeutige Bedeutung der namensgebenden zweiten Silbe dreht. Es enthüllt ein komplexes Zusammenspiel von Identität, Abhängigkeit und dem Wunsch nach Zugehörigkeit. Die Autorin nutzt eine Ich-Perspektive, um die Eigenschaften der zweiten Silbe darzustellen, die sowohl eigenständig als auch auf ein größeres Ganzes angewiesen ist.

In den ersten Strophen etabliert das Gedicht eine Reihe von Gegensätzen, die die Natur der zweiten Silbe definieren. Sie ist „comfortable“ und doch Teil eines größeren Ganzen, ein „einzig Blatt“ inmitten einer vielfältigen Landschaft. Sie ist sowohl klein als auch von Bedeutung, oft bedeckt und beschützt. Diese Widersprüche spiegeln die Dualität der Silbe wider: Sie existiert für sich selbst, ist aber auch untrennbar mit dem Wort verbunden, zu dem sie gehört. Der Kontrast zwischen „Größe“ und „Kleinigkeit“ sowie zwischen „Blöße“ und „Kleid“ deutet auf eine gewisse Unsicherheit und den Wunsch nach Anpassung hin.

Die dritte Strophe offenbart die Ambivalenz der zweiten Silbe gegenüber ihren eigenen Erfahrungen. Sie fürchtet sich vor dem „Brechen“ unter der Last, ist manchmal „völlig leer“ und manchmal mit „viel Geld“ belastet. Diese Zeilen deuten auf die verschiedenen Rollen und Zustände hin, die die Silbe innerhalb des Wortes einnehmen kann – sei es als Teil einer komplexen Bedeutung oder als bloße strukturelle Einheit. Die Beschreibung von „Zechen“ lässt zudem eine gewisse Geselligkeit und den Wunsch nach Genuss anklingen.

In der letzten Strophe nimmt das Gedicht eine persönliche Wendung, indem es die Motivation der Silbe offenbart, sich dem größeren Ganzen anzunähern. Das „Herzuschleichen“ und „Folgen“ deuten auf einen Wunsch nach Zugehörigkeit und Akzeptanz hin. Die abschließenden Zeilen „Wir wollen uns auch gleich zerteilen, / Wenn wir, geteilt, dich mehr erfreu’n“ verdeutlichen das zugrunde liegende Motiv: Das Ziel ist es, dem Kontext, der „dich“ (wahrscheinlich dem Leser oder dem Wort) zu gefallen, auch wenn dies die eigene Auflösung bedeutet. Die zweite Silbe ist bereit, sich selbst zu opfern, um Teil des Ganzen zu sein und dessen Bedeutung zu verstärken.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.