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Wassersturz

Von

Wasser und Mensch,
Ihr seid die ewige Bewegung!
Ihr seid der Trieb von allen Trieben: ihr seid der Geist!
Da steht kein Felsen starr und keine Gottheit hoch:
Vor eurem Strahl zersplittern die Blöcke Granit,
Vor eurer Stimme birst das Schweigen des Todes.

O Wasserfall, du Perlentänzer,
Aus deinem steilen, einzigen Wasserstamm
Blühst du Millionen Wasserzweige an die Erde!
Der giftigen Nessel am Straßengraben gibst du dich hin,
Du treibst den grünen Springbrunnen der Palmen empor;
Vergissmeinnicht fröstelt in deinem Tau,
Und der fette Ölbaum saugt dich mit kupfernen Pumpen auf,
Du bist der unendliche Geliebte der Erde!

So will ich, dein unsterblicher Geliebter,
Über die Menschheit strömen und überströmen:
Hinunter, hinunter aus der Einsamkeit
Schäumend von Liebe niederschmelzen,
(An den Gipfeln ermaß ich die Tiefe der Täler)
Zurück zur Menschheit will ich mich ergießen,
Zu den dunklen Schluchten der Besiegten und Geknechteten,
Zu den grauen Wüsten der Streber und Unfruchtbaren,
Zu den endlosen Ebenen der Armen und der Tölpel,
Zu den rauchigen Häfen der Vertriebenen und Gezwungenen —
Hinab, hinab, dem ewigen Trieb muss ich gehorchen,
Wer sich verschenkt, bereichert sich am meisten.
Ich will mit sprudelndem Mund und lachenden Augen
Die große Liebe dieser Nacht vergeuden,
Mich geben und geben, da ich weiß:
Unversiegbar sind die Gletscher der Erde,
Unversiegbar sind die Quellen des Herzens!

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Gedicht: Wassersturz von Yvan Goll

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Wassersturz“ von Yvan Goll verbindet die unaufhaltsame Kraft des Wassers mit dem unermüdlichen Drang des Menschen nach Bewegung, Liebe und Hingabe. In einer leidenschaftlichen, fast ekstatischen Sprache entfaltet es das Bild eines grenzenlosen Flusses, der alles durchdringt und erneuert.

In der ersten Strophe wird Wasser als Sinnbild für Energie und Veränderung dargestellt. Es steht für eine urtümliche Kraft, die jegliche Starre – ob Felsen oder göttliche Ordnung – überwinden kann. Besonders eindrucksvoll ist die Zeile „Vor eurer Stimme birst das Schweigen des Todes“ – hier wird Wasser nicht nur als physische, sondern auch als spirituelle Macht verstanden, die Leben bringt und Stagnation zerstört.

Die zweite Strophe zeigt den Wasserfall als einen unermüdlichen Spender des Lebens: Er gleicht einem „Perlentänzer“, der sich in zahllose Wasserzweige verzweigt und die Erde speist. Dabei schenkt er sowohl den bescheidenen Pflanzen am Wegesrand als auch den majestätischen Palmen und Ölbaumplantagen seine Kraft. Diese universelle Gabe des Wassers steht für eine grenzenlose, bedingungslose Liebe zur Welt.

In der letzten Strophe identifiziert sich das lyrische Ich mit dieser Bewegung. Es möchte wie das Wasser in die Menschheit strömen, sich verschenken und über alle – besonders die Benachteiligten und Unterdrückten – ergießen. Die wiederholte Bewegung „hinunter, hinunter“ verstärkt das Bild einer selbstlosen Hingabe, die gerade in der Auflösung des eigenen Ichs ihre größte Erfüllung findet. Die abschließende Erkenntnis, dass die „Quellen des Herzens“ ebenso unerschöpflich sind wie die Gletscher der Erde, hebt das Motiv der Liebe und Menschlichkeit hervor: Wahre Größe liegt in der unermüdlichen Weitergabe von Kraft und Zuneigung.

Goll schafft mit „Wassersturz“ eine hymnische Feier der Lebensenergie. Die Metaphorik des Wassers wird zu einem Sinnbild für Leidenschaft, Selbsthingabe und unerschöpfliche schöpferische Kraft, die die Welt durchdringt und verändert.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.