Orpheus
Ich steig in jeden Vorortzug
In dem eine Frau mit Samthut sitzt
Und Traum um die Augen wie du!
In allen Opernhäusern such ich die Logen ab,
Für jeden Dampfer nach Thule hab ich Karten:
Seit ich, Eurydike, dich verlor
Weil ich mich einmal umsah
Muss ich mich umsehn
Nach allen Frauen der Erde.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Orpheus“ von Yvan Goll greift den antiken Mythos von Orpheus und Eurydike auf und überträgt ihn in eine moderne, rastlose Welt. Der Sprecher, der sich mit Orpheus identifiziert, ist auf einer unaufhörlichen Suche nach der verlorenen Geliebten, die sich in den Gesichtern anderer Frauen spiegelt, aber niemals wirklich wiedergefunden werden kann.
Die erste Strophe beschreibt diese rastlose Suche: Der Sprecher steigt in Vorortzüge, durchforstet Opernlogen und kauft Fahrkarten für Dampfer nach fernen Orten. Das Motiv des Reisens steht hier für das unaufhörliche Umherirren eines Menschen, der nicht abschließen kann, der überall Hinweise auf die verlorene Liebe sucht, aber stets enttäuscht wird. Die Erwähnung des „Samthuts“ und des „Traums um die Augen“ zeigt, wie sich das Bild von Eurydike in anderen Frauen wiederfindet – jedoch nur als flüchtige Illusion.
Die entscheidende Zeile „Weil ich mich einmal umsah“ verweist direkt auf den Mythos: Orpheus verlor Eurydike, weil er sich auf dem Weg aus der Unterwelt verbotenerweise nach ihr umsah. In Golls Interpretation wird dies jedoch nicht als einmaliges Vergehen, sondern als ewige Zwangshandlung dargestellt: Das Sich-Umschauen wird zur lebenslangen Obsession. Der Schmerz des Verlusts lässt den Sprecher nicht los, er wiederholt die verhängnisvolle Geste immer wieder, indem er in jedem Gesicht Eurydike sucht.
Das Gedicht vermittelt damit eine tiefe Melancholie: Die Vergangenheit kann nicht zurückgeholt werden, doch der Versuch, sie wiederzufinden, hört nie auf. Die Kombination aus mythologischer Anspielung und moderner Großstadtwelt verstärkt das Gefühl der Entfremdung und des unentrinnbaren Kreislaufs von Sehnsucht und Verlust.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.