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Ode an den Herbst
Warum zerreiben die Ulmen
Schon ihr Gewand
Und schlagen um sich mit den Armen
In irrer Besorgnis?
Des Sommers goldene Ruhe
Hat sie verlassen.
Verloren sind die Schlüssel
Die Schlüsselblumen des Glücks
Im grauen Grase,
Und schon vergessen
Verklingen im Abgrund
Die Schwüre der Liebe.
Der große König
Der seltsam Wissende
Herrscher des Waldes
Er gibt den Kampf auf
Gegen die Wolken,
Er lässt sein rostiges
Szepter fallen,
Der Apfel der Weisheit
Und alle Kronjuwelen
Verfaulen.
Im brüchig rasselnden
Geißblattgeranke
Klopfet die Angst des Iltis
Und über dem Teiche
Zerbricht die Libelle
Wie tönendes Glas.
Nur die Zentauren
Im roten Barte
Sie rennen erfreut
Mit funkelnden Hufen
Die Hügel ab,
Und ihre Spuren
Verglimmen im Moose.
Es lösen die Blätter
Sich ab von den Stämmen
Wie wehe, wie wehende Hände:
Sie schichten unten
Ein kupfernes Grab
Den sterbenden Vögeln.
In den Ruinen
Der Vogelburg wohnt noch
Die nächtliche Eule
Mit großen Augen
Das Schicksal beleuchtend.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Ode an den Herbst“ von Yvan Goll beschreibt die Jahreszeit als eine Zeit des Verfalls, des Abschieds und der unaufhaltsamen Vergänglichkeit. Die Natur wird in Bildern des Niedergangs und der Melancholie gezeichnet – Ulmen zerreißen ihr Gewand, das Glück verblasst und Schwüre der Liebe verklingen im Nichts. Der Sommer, als Symbol von Fülle und Lebensfreude, ist unwiederbringlich verloren.
Besonders eindrucksvoll ist die Personifikation der Natur. Der Herbst erscheint als ein „großer König“, der seine Herrschaft aufgibt, sein „rostiges Szepter“ fallen lässt, während Früchte der Weisheit und Kronjuwelen verfaulen. Diese Bilder verweisen auf das Vergehen von Macht, Wissen und Glanz – ein zyklischer Prozess, dem alles Lebendige unterworfen ist. Auch Tiere und Pflanzen spiegeln diese Vergänglichkeit wider: Der Iltis zeigt Angst, eine Libelle zerbricht wie Glas, Blätter fallen wie wehende Hände und bilden ein „kupfernes Grab“ für sterbende Vögel.
Doch nicht alles in diesem Herbstbild ist von Trauer geprägt. Die Zentauren, mythische Wesen mit feurigen Hufen, rennen voller Freude durch die Landschaft und hinterlassen Spuren, die „im Moose verglimmen“. Sie stehen für eine wilde, ungezügelte Lebendigkeit, die sich mit dem Verfall versöhnt. Am Ende jedoch bleibt die „nächtliche Eule“ in den Ruinen der „Vogelburg“ zurück – als Wächterin des Schicksals, als stille Beobachterin der Vergänglichkeit. Damit zeichnet Goll ein vielschichtiges Bild des Herbstes: eine Zeit des Abschieds, aber auch der Weisheit und der Einsicht in die Zyklen der Natur.
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Lizenz und Verwendung
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