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Noemi

Von

1

Ich trage so schwer an der Schicksalserbschaft
Meiner Bibelmütter,
Meiner Prophetinnen,
Meiner Königinnen,

Es rauschen so mächtig aus dunklen Jahrhunderten
Die Gottesjahre,
Die Tempeljahre,
Die Ghettojahre.

Es singen so wirr in meiner geborstenen Seele
Die Jahrzeitenfeste,
Die Himmelsfeste,
Die Totenfeste.

Es schreien so tief in meinem tollen Blut
Die Patriarchen,
Die Helden,
Die Söhne!
Hör, Israel, Adonoi war dein Gott, Adonoi war einzig!

2

Ich bin die Tochter des Frühlingsvolks!
Andacht und Opfer vergeudend,
Riss ich die Erde in meinen Wirbel.
Mein Gebet war das menschliche Echo
Der Asphodelengesänge
Und Ölbaumsymphonien.
Mein Himmel war wolkig erbaut
Über den weiß erblühten Gebirgen,
Und die goldenen Sternenzeichen
Tief in dunklen Seen nachgebildet.
Jeder Mann trug stolz sein Zedernhaupt.
Jeder Jüngling eine wandelnde Akazie,
Israel so fromm wie ein Frühlingshügel!
Salben und öle dufteten um seine Glieder,
Und in seinen großen Augen
Lächelte Gott.
Opfer war die Sprache der Patriarchen,
Und die Engel die Antwort des Himmels.
Jede Mädchenklage wie ein Taubenpaar,
Jede Frauenbitte blondes Lämmchen,
Und des Kriegers unwirsch Kampfgelübde
Rauchte dumpf im Blute der Stiere auf.
Und die Tänze im süßen Weinberg,
Zimbeljubelnd kränzten sie das Jahr.

3

Ich bin die Tochter des Talmudvolks!
Tempel, in dem die Kupferleuchter
Wie Bäume ihre Siebenzweige entfalteten,
Wo statt der Märchensterne
Ewige Ampeln die mystische Nacht
Beunruhigten.
In goldenen Bechern hielt man Gott gefangen.
Brokat und Purpur ziemte seinen Priestern.
In Porphyrarkaden versargt
Lag der sterbende Himmel.
Als Israel von seinen Hügeln gestiegen,
Zerschlug es sich an Felsenschluchten
Sein grauendes Lockenhaupt,
Zerrieb an Fliesen seine verflachten Knie.
Die Sonne hing verkohlt und schwarz in der Straße,
Ein Lämpchen nur bestrahlte das Tempelvolk.
Israel, verwitterndes Gebirg,
Alternder Gletscher,
In Schrift und Zeichnung und Kabbala
Erörtertest du kalt
Den Prozess des Himmels.
Aber versteint war deine Seele,
Vereist dein Herz!

4

Ich bin die Tochter des Ghettovolks!
Der schnarrenden und schnorrenden Rabbis,
Der Waisenkinder und Totengräber.
In dumpfen Kellern, triefenden Gewölben,
In spanischen Türmen, rumänischen Höhlen
Hab ich geschmachtet.
Wo ist Elohim,
ihr Kodoschim?
Oi, oi, oi,
Und wo ist Adonoi?
Am morschen Altar schüttelt ihr die Palmen,
Mit faulen Zähnen kräht ihr Klagepsalmen.
Mit Litaneien und Schreien
Wollt ihr Gott befreien,
In klebrigen Kaftanen
Imitiert ihr die Geste der Ahnen,
Beim blutigen Pogrom, in der Kerkerkette,
Im Mordviertel der Zyklopenstädte
Nennt ihr euch Erben
Und wollt nicht sterben!
O Volk der duftenden Schwestern und denkenden Brüder,
Auferstehe, mein Volk, und lasse die Lieder
Und lasse den Gott der Schriften und Klagen
Begraben!
Hör, Israel!

5

Höre!
Du hast einen Geist,
Du hast einen Geist, mit Blut und Gott gespeist,
Du hast einen Geist, in allen Feuern der Schöpfung rein geschweißt,
Du hast einen Geist, auf allen Meeren und Landstraßen weitgereist,
Du hast einen Geist, von allen Philosophien, Poesien, Geometrien, Industrien der Menschheit umkreist.
Du hast den einen, einzigen, ewigen Geist.

Hör, Israel!

Dein Geist erleuchte die fünf Kontinente,
Dein Geist bemeistre die vier Elemente,
Dein Geist erobre die drei Reiche,
Dein Geist befreie die zwei Menschen,
Dein einer Geist!

Hör, Israel!

Mit deinem Geiste wirst du alle Tode der Welt verlebendigen:
Dein Geist ist die Pforte zum Eden,
Dein Geist ist die Flucht nach Nirwana,
Dein Geist ist die Barke gen Elysium!
Dein Geist! Deine Erkenntnis! Dein Alleswissen!

Hör, Israel!

Dein Geist ist die glänzende Neugeburt,
Dein Geist ist der alte Gott,
Zum Sohne der Menschheit verjüngt.
Dein Geist ist das Leben!
Hör, Israel, dein Geist ist dein Gott, dein Geist ist einzig!

6

Zu Neumond will ich auferstehen!
Die schwarzblauen Flechten salben mit dem Öl der Nuss.
Und den Geliebten empfangen mit sternklarem Kuss.

Zu Neumond will ich wandern gehen!
Und über den Himmel das Glück meiner Liebe verkünden,
Und auf der Erde den Sieg meiner Liebe gründen.

Zu Neumond will ich tanzen gehen.
Die Menschen aus ihrem Traume wecken,
Über den Städten das neue Licht anstecken.

Zu Neumond will ich auferstehen!
Den hohen Geist wie Phönix aus der Asche heben.
Dem alten Glauben den Namen Erkenntnis geben.

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Gedicht: Noemi von Yvan Goll

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Noemi“ von Yvan Goll ist eine eindringliche Auseinandersetzung mit jüdischer Identität, Geschichte und Spiritualität. In sechs kraftvollen Abschnitten entfaltet sich ein vielschichtiges Bild jüdischer Existenz – von biblischen Ursprüngen über die Talmud- und Ghettozeit bis hin zu einer visionären Erneuerung des Geistes.

Die ersten Strophen thematisieren die Schwere des Erbes. Die Sprecherin fühlt sich von der Geschichte ihrer Vorfahren geprägt: Prophetinnen, Königinnen und Patriarchen hallen in ihr nach. Der religiöse und kulturelle Reichtum des Judentums wird eindrucksvoll beschworen, aber auch die Last dieses Erbes wird spürbar. Während in der zweiten Strophe ein idealisiertes Bild des „Frühlingsvolks“ gezeichnet wird – voller Frömmigkeit, Naturverbundenheit und ritueller Schönheit –, zeigt die dritte Strophe eine intellektuelle, aber auch erstarrte Welt des Talmuds, in der das spirituelle Feuer erloschen scheint.

Mit der vierten Strophe wechselt der Ton deutlich: Die Ghettogeschichte wird als Leidensweg beschrieben, geprägt von Armut, Unterdrückung und Pogromen. Hier setzt eine kritische Distanz zur traditionellen Religiosität ein: Die Gebete und Klagen erscheinen kraftlos, die Hoffnung schwindet. Doch anstatt in Resignation zu verfallen, ruft die Sprecherin zur Erneuerung auf – die Vergangenheit soll nicht nur bewahrt, sondern überwunden werden.

In den letzten beiden Strophen vollzieht sich eine Transformation: Der Geist des jüdischen Volkes wird als unzerstörbare Kraft gefeiert, die über die Welt hinausstrahlt. Der abschließende Neumond-Symbolismus steht für Wiedergeburt, Aufbruch und eine neue Spiritualität jenseits überkommener Formen. Die Verbindung von altem Erbe und neuer Erkenntnis mündet in einer hoffnungsvollen Vision: eine spirituelle Wiedergeburt, die sich nicht mehr allein auf Vergangenheit und religiöse Dogmen stützt, sondern in Erkenntnis und Fortschritt eine neue Zukunft findet.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.