Der Salzsee
Der Mond leckt wie ein Wintertier das Salz deiner Hände,
Doch schäumt dein Haar violett wie ein Fliederbusch,
In dem das erfahrene Käuzchen ruft.
Da steht für uns erbaut die gesuchte Traumstadt,
In der die Straßen alle schwarz und weiß sind.
Du gehst im Glitzerschnee der Verheißung,
Mir sind gelegt die Schienen der dunklen Vernunft.
Die Häuser sind mit Kreide gegen den Himmel gezeichnet
Und ihre Türen bleigegossen;
Nur oben unter Giebeln wachsen gelbe Kerzen
Wie Nägel zu zahllosen Särgen.
Doch bald gelangen wir hinaus zum Salzsee.
Da lauern uns die langgeschnäbelten Eisvögel auf,
Die ich die ganze Nacht mit nackten Händen bekämpfe,
Bevor uns ihre warmen Daunen zum Lager dienen.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Der Salzsee“ von Yvan Goll verbindet traumartige, surreale Bilder mit einer tiefen Symbolik von Sehnsucht, Dualität und existenzieller Bedrohung. In einer nächtlichen Szenerie entfaltet sich eine fast visionäre Atmosphäre, in der das lyrische Ich zwischen Hoffnung und Dunkelheit schwankt.
Die erste Strophe eröffnet mit einem eindrucksvollen Bild: Der Mond wird mit einem „Wintertier“ verglichen, das das Salz von den Händen des Gegenübers leckt – ein Motiv der Kälte und zugleich der Reinheit. Doch während die Hände vom Salz gezeichnet sind, ein Zeichen von Erschöpfung oder Schmerz, schäumt das Haar in violetten Fliedertönen – ein Kontrast zwischen Härte und Schönheit. Das Käuzchen, ein Symbol für Wissen oder Unheil, verstärkt die nächtliche Atmosphäre.
Die zweite und dritte Strophe führen in eine Traumstadt, die zugleich verheißungsvoll und bedrohlich ist. Die schwarz-weißen Straßen symbolisieren eine Welt der Gegensätze: Hoffnung und Vernunft, Licht und Dunkelheit. Während das Gegenüber durch den „Glitzerschnee der Verheißung“ geht, ist dem Sprecher ein anderer Weg bestimmt – „die Schienen der dunklen Vernunft“. Die Häuser wirken vergänglich und geisterhaft, mit Kreide an den Himmel gezeichnet, während ihre Türen aus Blei wie ein Sinnbild für Schwere und Unausweichlichkeit erscheinen. Besonders eindringlich ist das Bild der gelben Kerzen unter den Giebeln, die „wie Nägel zu zahllosen Särgen“ wachsen – eine düstere Andeutung von Tod und Vergänglichkeit.
Die letzte Strophe bringt Bewegung in die düstere Szenerie: Der Salzsee wird als ein Ziel, vielleicht sogar als eine Art Erlösung angedeutet, doch lauern dort langgeschnäbelte Eisvögel – ein rätselhaftes Bild, das Bedrohung und Widerstand symbolisieren könnte. Der Kampf mit bloßen Händen deutet auf einen existenziellen Überlebenskampf hin, bevor schließlich Wärme und Geborgenheit gefunden werden.
Golls Gedicht besticht durch seine eindringlichen, teils widersprüchlichen Bilder und schafft eine Atmosphäre zwischen Traum und Albtraum. Es thematisiert das Ringen zwischen Sehnsucht und Realität, zwischen Hoffnung und Bedrohung – eine poetische Reflexion über die Fragilität menschlicher Existenz.
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Lizenz und Verwendung
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