Wohl rief ich sanft dich an mein Herz
Wohl rief ich sanft dich an mein Herz,
Doch blieben meine Arme leer;
Der Stimme Zauber, der du sonst
Nie widerstandest, galt nicht mehr.
Was jetzt dein Leben füllen wird,
Wohin du gehst, wohin du irrst,
Ich weiß es nicht; ich weiß allein,
Daß du mir nie mehr lächeln wirst.
Doch kommt erst jene stille Zeit,
Wo uns das Leben läßt allein,
Dann wird, wie in der Jugend einst,
Nur meine Liebe bei dir sein.
Dann wird, was jetzt geschehen mag,
Wie Schatten dir vorübergehn,
Und nur die Zeit, die nun dahin,
Die uns gehörte, wird bestehn.
Und wenn dein letztes Kissen einst
Beglänzt ein Abendsonnenstrahl,
Es ist die Sonne jenes Tags,
Da ich dich küßte zum erstenmal.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Wohl rief ich sanft dich an mein Herz“ von Theodor Storm handelt von der schmerzlichen Erfahrung der Trennung und der unerwiderten Liebe. Der Dichter beschreibt die Sehnsucht nach einer verlorenen Beziehung, die Trauer über das Scheitern und gleichzeitig die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung im Jenseits oder in der Erinnerung. Die erste Strophe deutet bereits auf die Distanz zwischen den Liebenden hin: Der Anruf an das Herz bleibt unbeantwortet, die Arme sind leer. Die einstige Anziehungskraft, der Zauber der Stimme, ist verflogen, und die Geliebte hat sich entfremdet.
In der zweiten Strophe manifestiert sich die Ungewissheit über das Leben der Geliebten ohne den Dichter. Er weiß nicht, wohin sie geht oder was sie tut, nur dass ihr Lächeln ihm für immer verwehrt bleibt. Diese Zeilen drücken sowohl das Gefühl der Ohnmacht als auch die tiefe Trauer über den Verlust der gemeinsamen Zukunft aus. Der Dichter akzeptiert die Realität der Trennung, aber gleichzeitig ist die Sehnsucht nach der verlorenen Harmonie spürbar. Die Erwähnung des „jetzt“ und die Betonung, dass die Geliebte ihm nie mehr lächeln wird, verstärkt das Gefühl der Unabänderlichkeit des Schicksals.
Die dritte und vierte Strophe enthalten einen Hoffnungsschimmer. In der „stillen Zeit“, im Alter oder im Tod, wenn das Leben die Liebenden allein lässt, soll die Liebe des Dichters bei ihr verweilen. Die gegenwärtigen Ereignisse werden wie Schatten vorüberziehen, und nur die gemeinsame Vergangenheit, die gehörte Zeit, wird bestehen bleiben. Diese Zeilen offenbaren eine romantische Vorstellung von ewiger Liebe, die über die Trennung und den Tod hinausgeht. Der Dichter tröstet sich mit der Vorstellung, dass die Zeit der Trennung von geringerer Bedeutung sein wird als die bleibende Liebe, die sie einst verband.
Die letzte Strophe kulminiert in einem sehr bewegenden Bild. Wenn die Geliebte stirbt, wird ein Sonnenstrahl, wie er am Tag ihrer ersten Begegnung fiel, ihr letztes Kissen erhellen. Der Dichter verbindet hier den Beginn ihrer Liebe mit dem Ende ihres Lebens, wodurch die ewige Natur der Liebe, die er empfindet, unterstrichen wird. Das Gedicht ist so eine Meditation über Liebe, Verlust, Zeit und die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung in der Ewigkeit, wobei die Vergangenheit und die Erinnerung als tröstliche Anker in der Gegenwart dienen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.