Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , , , , , , ,

Sehnsucht nach Neapel

Von

Kaum dieser Erde lieblichstes Schattengrün,
Ariccia’s alte Sikulerburg, und kaum
Der Cythia Hain, und ihres Spiegels
Duftiges Seeblau und Eichendunkel,

O Freund, erreicht‘ ich, und des Tyrrhenermeers
Glanzreiche Pracht, und brennend im Abendgold
Lanuvium’s Berg und meines Latium’s
Trümmerbesä’te Campagna schaut‘ ich,

Und der Erinn’rung freudige Wehmuth rief
Mir schon lustselige Tage zurück, da mir
Im Golf Parthenope’s, in Capri’s
Felsiger Heimath und holder Wildniß

Die goldne Fluth, die lebenverjüngende,
Aus ros’gem Becher Hebe zu schlürfen gab,
Und sieh‘ zum kaum verlass’nen Thore
Führet den Trauernden schon der finst’re,

Von keinem Lied‘ besänftigte Gott zurück.
O Rom! was ist’s, das heute so viel des Gifts
Durch deine Lüfte streut, und tödtlich
Hügel und Ufer und Thal entathmet?

Ist es der Vorwelt drückender Moderhauch,
Des großen Kirchhofs, den ich durchwandere,
In dessen Denkstein, Grab und Inschrift
Einsame Wand’rer und ernste Denker

Die Weltgeschichte lasen; vielleicht das Blut
Das hier geströmt Jahrtausende durch, und tief
Befleckt die Erde, welch ein Tiber
Faßt‘ es in seines Gestades Gränze?

Nicht weiß ich’s, Freund, doch sei dir bekannt: Zwar pflegt
Mich treue Sorgfalt: Amor, mein steter Freund,
Wenn längst auch mit gesenktem Flügel,
Ist er doch immer noch mein Begleiter,

Und kürzt der Stunden Kummer und Ungeduld,
In Traum und Schlaf einwiegend das Herz, wenn nicht
Mit Diotimas Lehre, doch mit
Raffael’s Freuden und Benvenuto’s.

Wohl rühm‘ ich deß mich! Aber in Rom dünkt mir,
Als ob im Grab ich schlummr‘, und im Zaubergolf
Neapels Psyche bald zur reinen
Schönheit Elysiums auferstünde.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Sehnsucht nach Neapel von Wilhelm Waiblinger

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Sehnsucht nach Neapel“ von Wilhelm Waiblinger ist eine elegische Reflexion über Schönheit, Erinnerung und innere Zerrissenheit zwischen zwei symbolisch aufgeladenen Orten: dem lebendigen, sinnlichen Neapel und dem schweren, geschichtsträchtigen Rom. Das lyrische Ich schildert seine Reise durch klassische italienische Landschaften, doch trotz der äußeren Schönheit bleibt es innerlich von einer tiefen Melancholie erfüllt.

Die ersten Strophen entfalten eine klassische Naturszenerie: Ariccia, Lanuvium, das tyrrhenische Meer – sie stehen für das kulturelle Erbe und die Schönheit des alten Latiums. Doch schon hier ist die Wahrnehmung nicht unbeschwert, sondern von Erinnerung durchzogen. Das lyrische Ich blickt zurück auf die „lustseligen Tage“ in Neapel und Capri, wo das Leben noch als lebensspendende, „goldne Fluth“ erschien. Neapel wird zur Chiffre für Lebensfreude, Naturverbundenheit und jugendliche Lebenskraft.

Demgegenüber steht Rom als Symbol der Schwere, des Todes und des historischen Ballasts. Der „Vorwelt drückender Moderhauch“ legt sich über die Stadt, die als riesiger „Kirchhof“ wahrgenommen wird. Die einstige Weltmetropole erscheint hier nicht als Quelle von Inspiration, sondern als von Geschichte überfrachteter Ort, der die Lebendigkeit des lyrischen Ichs zu ersticken droht. Selbst der Fluss Tiber wird nicht als Quelle von Leben, sondern als Träger vergossenen Blutes beschrieben – eine eindringliche Metapher für die tödliche Schwere Roms.

Trotz allem findet das Ich auch in Rom tröstende Begleiter: Amor, wenngleich mit „gesenktem Flügel“, sowie die Kunst – etwa in Raffaels und Benvenutos Werken. Diese Gestalten der Schönheit und Sinnlichkeit wirken wie verblasste Erinnerungen an frühere Erhebungen. Doch das Lebensgefühl bleibt gedämpft, fast grabesstill.

Im Schlussbild kulminiert die Spannung zwischen Rom und Neapel: Während Rom als ein Ort des Schlafs im Grab erscheint, wird Neapel zum erlösenden Traumort, in dem Psyche – die Seele – „zur reinen Schönheit Elysiums auferstünde“. So wird Neapel nicht nur zur Stadt der Sehnsucht, sondern zur Projektionsfläche einer idealisierten Welt jenseits von Tod, Geschichte und Schwere – eine letzte Hoffnung auf Auferstehung der inneren Lebendigkeit.

Möchtest du eine Analyse zu einem weiteren Gedicht der Romantik oder der Spätklassik?

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.