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Lied der Weihe

Von

Ein Sänger, der in weiter Ferne
Vom deutschen Vaterlande lebt,
In dessen Geist und Herz so gerne
Der Heimat Bild herüberschwebt,
Singt unter Frühlingslaub und Blüte
Zum ersten Mal voll stiller Ruh
Im tiefbesänftigten Gemüthe
Sein Lied euch in den Norden zu.

Euch Allen rührt sie sanft den Busen,
Die Sehnsucht nach dem schönen Land,
Wo einst der heil’ge Chor der Musen
Der Vorzeit Lorbeerkränze band,
Unsterbliche, gepries’ne Siege
Die Weltgebieter einst gekrönt,
Und Sanzio seine große Wiege
Mit allem Himmelsglanz verschönt.

Drum hofft der Sänger, auch willkommen
Mit seinem Herzensgruß zu sein:
Denn ob ihm schon das Glück genommen
Was wild und zart, was groß und klein
Das heiße Herz ihm einst erfreute,
Der Heimat wie der Liebe Lust;
Ach Wonnen, die er nie bereute,
Die Sehnsucht jeder Menschenbrust;

Doch ist der Trennung bittre Klage,
Das Ach des Lebewohls gestillt,
Und allen Gram verlorner Tage,
Das trübe Nachtstück, überschwillt
Die reine Flut des neuen Lebens,
Wo die Vergangenheit versank,
Wo ich des wunden Seelenstrebens
Vergessenheit in Fülle trank.

Kein feuchtes Auge voll Vertrauen,
Voll Liebesweh, voll sel’gem Wahn,
Doch wohl auf immergrünen Auen
Blickt mich manch süßes Veilchen an;
Ach keiner Lippe holdes Schmachten,
Kein Seufzer, kein beredter Schwall,
Doch Haine, die schon Flaccus lachten,
Voll vom Gesang der Nachtigall!

Wohl jauchzt die Seele voll Entzücken,
Wenn von Mäcenas Wunderhaus,
Gleich einem Schleier anzublicken,
Aus alter Bögen Nacht heraus,
Von Tiburs Fels, wie aus den Lüften,
Die silberne Kaskade schäumt,
Im Wasserklang, in Blumendüften
Die große, schöne Vorwelt träumt!

Wenn sie an deinem klaren Spiegel,
Dianensee, dem Winde lauscht,
Der in dem Laub mit sanftem Flügel
Gleich einem Geist der Fabel rauscht;
O Lust, die nur die Götter kennen,
Wenn oft so unaussprechlich hold
Die lichten grünen Haine brennen,
Und Psyche schwelgt im Abendgold;

Wenn in die hellen, milden Weiten
Ihr Blick aus Lorbeerdunkel streift,
Und träumend von den Heldenzeiten
Zum Zauberberg der Circe schweift,
Der dort so lieblich, so verschwiegen,
An Sagen und an Wundern reich,
Des Meeres blauem Duft entstiegen,
Den Märchen meiner Kindheit gleich;

Wenn sie, vom Jubel und Gesange
Nun aus dem Träumen aufgestört,
Ein frohes Volk beim wilden Klange
Der Tamburine jauchzen hört,
Und auf der Flur in lust’gen Tänzen,
Wo goldne Früchte niederblühn,
Voll Sinnenlust, mit Rosenkränzen
Die schönsten Frau’n der Erde glühn;

Da möchte sie voll Freude fühlen,
Wie ewig jung und sorgenlos
Dort im Olymp die Götter spielen,
Erhaben über Glück und Loos;
Da möchte sie nur selig preisen
Wer keiner weitern Zukunft harrt,
Da grüßte sie allein als Weisen
Das Kind der holden Gegenwart.

Und so empfangt denn auch die Gabe,
Die mir der Augenblick geschenkt:
Zwar hat die Zeit im frühen Grabe
So eilend den Genuß versenkt.
Doch ihm entsproßt die schönste Blume
Des Liedes duft’ge Heiterkeit;
So sei die Blüte denn dem Ruhme,
Die Frucht der Ewigkeit geweiht.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Lied der Weihe von Wilhelm Waiblinger

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Lied der Weihe“ von Wilhelm Waiblinger ist eine kunstvolle Hymne an die Dichtung, die Erinnerung an die Heimat und die Schönheit der italienischen Landschaft, in der der Sprecher lebt. Es vereint persönliche Sehnsucht, klassische Bildung und eine idealisierende Gegenwartsverklärung zu einer feierlich-melancholischen Selbstvergewisserung des Dichters. Dabei steht die poetische Gabe selbst im Zentrum: als Geschenk, als Überwindung von Schmerz und als Beitrag zur kulturellen Unsterblichkeit.

Bereits in der ersten Strophe wird deutlich, dass das lyrische Ich in der Fremde lebt, fern vom deutschen Vaterland, das es mit Sehnsucht betrachtet. Die Dichtung wird dabei zur Brücke zwischen der südlichen Gegenwart und der nördlichen Herkunft, zur inneren Verbindung über Raum und Zeit hinweg. Dieses „Weihe-Lied“ ist Ausdruck eines friedvollen, tief empfundenen Moments, in dem sich die inneren Spannungen des Exils kurz auflösen.

Im zweiten Teil des Gedichts wird Italien, das Land der Antike und Renaissance, als geistige Heimat aller Dichtung und Kunst gepriesen. Rom und seine Helden, Raffael (Sanzio), Mäzen, Horaz (Flaccus) und mythologische Orte wie der Dianensee oder der Berg der Circe erscheinen wie leuchtende Stationen einer poetischen Pilgerreise. Diese Landschaft ist keine bloße Kulisse, sondern erfüllt das Gemüt mit „unaussprechlich holden“ Eindrücken. Natur, Mythos und Geschichte verschmelzen hier zu einem Idealraum, der der trauernden Seele Trost spendet.

Gleichzeitig verarbeitet das Gedicht einen existenziellen Schmerz: den Verlust von Liebe, Heimat, vertrauten Menschen. Doch dieser Schmerz wird in Kunst verwandelt. Das Gedicht spricht von der „Vergessenheit in Fülle“, vom Übergleiten in ein neues Leben. Der Kontrast zwischen der äußeren Schönheit der Welt und dem inneren Fehlen von Nähe wird bewusst ausgehalten: Wo einst „kein feuchtes Auge“ und „keine Lippe“ mehr trösten, lächeln Veilchen und Nachtigallen. Die Natur tritt an die Stelle des Menschen – nicht als Ersatz, sondern als Trost.

Die letzten Strophen führen zu einer Art poetischem Resümee: Die Gegenwart wird als paradiesisch erlebt, der Augenblick gefeiert, der „kein weiteres Morgen“ verlangt. Der Blick auf die tanzende, sinnliche italienische Lebenswelt gipfelt in einem Wunsch nach göttlicher Zeitlosigkeit. In dieser ästhetisierten Gegenwart lebt das lyrische Ich nicht nur als Beobachter, sondern als Dichter: Die „duft’ge Heiterkeit“ des Liedes entspringt dem Grab vergangener Freuden – die Poesie wird zur Blüte aus dem Schmerz. Und diese Blüte, dieses Lied, soll dem Ruhm gelten, ja: der Ewigkeit.

„Lied der Weihe“ ist damit sowohl ein klassizistisches Kunstbekenntnis als auch eine sehr persönliche poetische Selbstvergewisserung. Waiblinger verschmilzt hier Naturbild, Erinnerungslyrik und Idealismus zu einem poetischen Manifest der Schönheit, das aus Verlust heraus neue Würde schöpft.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.