Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , ,

Die Töne

Von

Freundinnen der flüchtigen Horen seid ihr
Töne doch vor allen, geheim im Bunde
Steht ihr, und das Schönste, die Seele nach dem
Traurigen Tode

Lassen jene Genien zurück in eurer
Sanften unvergänglichen Macht und Schöne,
Ja ihr weckt sie immer zu neuem Leben
Selbst aus dem Grab‘ auf.

Meine Kindheit schließt mir im Flötenklange
Ihre Rosenwelt und den tiefen Kelch auf,
Dessen Duft einst, wie der Gedank‘ im Herzen,
Lange geschlummert.

Wie vermöcht‘ ich jenen Gesang, die Stimme
Ihrer heißen Sehnsucht, der ersten Liebe
Klagelaut, und all‘ das unsäglich Zarte
Noch zu ertragen,

Wenn’s einmal in rauschenden Melodien
Freudejauchzend, ach aus so ganz verlornen
Blumentagen, jubelnd zurück ins Herz kehrt,
Wo es gestorben.

Das, o Töne, wie ich auch oft es fühle,
Das ertrüg‘ ich nicht. Denn der Freud‘ und Jugend
Schwand mir so viel, daß die Erinn’rung nicht, nur
Lethe mich tröstet.

Eines aber lieb‘ ich, wenn meiner Leiden
Und Verluste schmerzlicher Seufzerlaut und
All‘ mein Weh, gleich Aeolus Lüften, leise
Mir in des Herzens

Düstre tiefzerfallne Ruine spielet:
Denn mir ist, als kämen die Geister meiner
Lieben schon von Jenseits zurück in solchen
Sel’gen Accorden.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Töne von Wilhelm Waiblinger

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Töne“ von Wilhelm Waiblinger beschäftigt sich mit der Kraft der Musik und ihrer Fähigkeit, tiefste emotionale Zustände zu erwecken und vergangene Erinnerungen zu wecken. Die Töne werden zu geheimen „Freundinnen“ der Seele, die im Hintergrund wirken und die Verbindung zwischen Leben und Tod herstellen. Der Sprecher beschreibt, wie die Töne die Seele sogar nach dem „Traurigen Tode“ in einem unvergänglichen Zustand wiedererwecken, was auf die überdauernde Macht der Musik und ihre Fähigkeit hinweist, das Vergangene in das Leben zurückzuholen.

Besonders deutlich wird dies in der Erinnerung des lyrischen Ichs an seine Kindheit. Der „Flötenklang“ öffnet die „Rosenwelt“ seiner Kindheit und lässt den Duft von vergangenen Momenten wieder lebendig werden. Diese Erinnerung ist tief in seinem Herzen verwurzelt, doch der Schmerz, der mit ihr verbunden ist, hat den „Gedanken“ im Herzen „schlummern“ lassen. Die Musik und die Erinnerungen an diese glücklichen Zeiten kommen in den Tönen immer wieder zu neuem Leben, was die ambivalente Natur von Erinnerung und Verlust betont.

Der Sprecher erkennt jedoch, dass das Ertragen der Musik, die die „erste Liebe“ und „Sehnsucht“ zum Leben erweckt, eine schwere Bürde ist. Die „Klagelauten“ der Musik rufen schmerzhafte Erinnerungen an die Jugend und Freude hervor, die bereits vergangen sind. Dieser rauschende „Jubel“ aus den „Blumentagen“ führt zu einer Rückkehr der Freude ins Herz, aber auch zu einer schmerzhaften Erinnerung an das, was verloren gegangen ist. Die Musik lässt den Verlust schmerzlich lebendig werden, was den inneren Konflikt des lyrischen Ichs zwischen Sehnsucht und Trauer verstärkt.

Am Ende des Gedichts finden wir eine Wendung, in der der Sprecher die schmerzlichen Erinnerungen eher als „Erträglich“ empfindet, wenn sie in den leisen „Lüften“ des Herzens gespielt werden. In dieser leiseren, stilleren Form der Musik wird der Verlust in eine Art tröstliche Erinnerung verwandelt, die die Geister der Verstorbenen zurückbringt und eine transzendente Verbindung mit der jenseitigen Welt schafft. Diese „sel’gen Accorde“ erlauben es dem Sprecher, die Geister seiner „Lieben“ wahrzunehmen, als ob die Musik eine Brücke zwischen den Welten schlägt. Die Musik wird hier als ein Mittel zur Versöhnung mit dem Verlust und zur inneren Heilung dargestellt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.